LIFE IS A LIQUID DROP BY DROP

HOPE beim Jazz Festival Frankfurt 31.10.2015

Stellen wir uns den hr-Sendesaal in Frankfurt als Pandoras Büchse vor und das 46. Deutsche Jazzfestival, das dort am 29.-31.10.2015 über die Bühne ging, als Gelegenheit für allerhand "good noodling" und "bad noodling" (O-Ton Zappa). Uns zwei Würzburger Freakmäuse interessierte da hauptsächlich das, was übrig blieb, als alle Übel aus der Büche waren - HOPE, die Hoffnung. Vor diesem Update von Cassiber, als das Alfred 23 Harth und Chris Cutler zusammen mit Kazuhisa Uchihashi und Mitsuru Nasuno angekündigt waren, gab es mit "Jazz from Hell" den Versuch des amerikanischen Keyboarders und Arrangeurs Mike Holober, ausgerechnet mit Frank Zappa als Duftbäumchen gegen den Mief anzustinken, der nun mal Jazzerei wie die der HR-Bigband umgibt. Mit dem 'Hot Rats/Grand Wazoo'-Orchestra als Legitimation, wird quasi insinuiert, dass Zappas Ambitionen sich, seinem Lästermaul zum Trotz, sogar besonders gut mit einer Jazzband realisieren lassen. Aber warum sich mit seinem anarchischen Witz und wilden Stil-Mix rühmen, um einige seiner Ohrwürmer und schmissigen Inventionen dann doch bloß, abgesehen von einigen keyboardistischen Finessen, die das Zappa-typische Vibraphon anklingen lassen, und einem Klarinettensolo mit Delaywizardry, als schlappe Nudeln zu servieren? Wir lassen's uns gefallen mit dem Hintergedanken, dass selbst schlapper Zappa eine Klientel von Kultur-Posern, die am liebsten nur fressen was sie kennen, ein wenig zappafizieren könnte. Andere nennen diese "genormte Wohlfühlpaket für unsere Bildungsbürger" freiweg eine "schwülstige, weichgekochte Zumutung" (O-Ton Gropi).

Zwei Tage zuvor hatten Michael Mantler und Christoph Cech ebenfalls für die HR-Bigband jenes "Jazz Composer's Orchestra Update" adaptiert, das die beiden 2013 mit der Nouvelle Cuisine Big Band in Wien bewerkstelligt hatten, wieder mit dem radio.string.quartet.vienna, David Helbock am Piano und Bjarne Roupé an der Gitarre, sowie nun auch dem HR-Haus-Saxophonisten Tony Lakatos und Peter Brötzmann als Solisten, auf die das Fantasieren übertragen wurde, das 1968 bei Mantlers wegweisender Hochzeit von Third Stream und Free Jazz so denkwürdig von Cecil Taylor, Roswell Rudd und Larry Coryell (um wenigstens drei zu nennen) verwirklicht worden war.

Ich bin da, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, zwischendurch etwas nach Schlummerland abgedriftet, bevor Brötzmann, lyrisch intensiv, wie man ihn kennt, meine Lebensgeister wieder fokusierte. Ich erwähne das vor allem wegen des Stichworts 'Update' im Hinblick auf HOPE, die Cassibers Konzept eines "instant composing" (O-Ton A23H) "unter den Bedingungen der Gegenwart noch einmal auf den Prüfstand stellen" (O-Ton Programmheft). Während der gute Mantler nämlich den improvisatorischen Spielraum zugunsten des Kompositorischen einschränkte, muten und trauen Harth & Co. sich und den Zuhörern allein schon in diesem Punkt Cassiber-getreu die Unwägbarkeiten einer 'gewagten Musik' zu. Was sich als Feldversuch erweist für den Slogan: Sind sie zu stark, bist du zu schwach. So manche von denen, die gerade noch beim Mark Turner Quartet mit seinem haarigen Trompetenschmus und gepflegten Reminiszensen an den coolen Tenorsaxophonisten Warne Marsh die Warnung Langeweile kann tödlich sein bedenkenlos überklatschten, suchen peu à peu das Weite. Da sind sie in Frankfurt nicht weniger konventionell und provinziell als in Würzburg. Denn HOPE offeriert nichts weniger als ein "magisches" Konzert (O- Ton meines Stuhlnachbarn), womit ein magisch gemeint ist wie in "Magischer Realismus" (O-Ton Gropi). Nasuno stoisch mit subtilen Basseffekten und überraschenden Klangschüben, Uchihashi als verschmitzter Irrwisch mit einer erstaunlichen Fülle an Daxophon- & Gitarrentricks, dazu Cutler einzigartig mit seinen typischen luftigen Schlägen mit rotgebänderten Stöcken oder mit Schlägeln, aber auch vielen feinen perkussiven Finessen, und A23H im vielfältigen Wechsel zwischen Bassklarinette, Posaune, Pocket-Trumpet, Tenorsax, Trillerpfeife und Taepyeongso sowie mit einem Füllhorn an Samples per Laptop, Kaoss Pad, CD Scratcher und Effektgeräten. Ihre Musik, die sie nicht als Folge von Stücken gestalten, sondern als beständigen Flow, tastet sich so voran wie Wasser sich den Weg bahnt. Immer unberechenbar, mit wechselnden Strudeln, momentanen Verlangsamungen und dann doch wieder Durchbrüchen an unvermuteter Stelle. Wenn A23H 'O Cure Me' anstimmt in der deutschen und der englischen Version, wenn das pulsierende Intro dazu leitmotivisch wiederkehrt oder wenn kurz 'I tried to reach You' anklingt, knüpft das direkt an Cassiber an. Der Duktus ist aber durchwegs dem des eponymosen 'Man or Monkey' recht nahe und all den wenig bis gar nicht vorgeformten Passagen, die Cassibers beachtlichstes Erbteil sind, auch wenn sie sich vielleicht nicht so ins Gedächtnis geprägt haben wie ihre 'Hits'. Zwischen damals (1982) und heute scheinen weniger Jahrzehnte zu liegen als der Kalender und alle Spiegel behaupten. Die beiden schieberbemützten Japaner sind eine geglückte Konsequenz aus Harths biografischer Verrückung nach Fernost und der Tatsache, dass Cassiber 1992 in Tokyo ihr Testament hinterlegten, wo sie auch in Otomo Yoshihide (in dessen Ground-Zero Uchihashi und Nasuno    mitgemischt haben) einen optimalen Nachlassverwalter fanden. Hier und heute sind Marschtrommel und Pauke (und den Deklamationen von Christoph Anders) erweitert mit noch mehr Feinheiten, Schichtungen und Zwischentönen. Der kleine Abstecher ins Märchenland, wo A23H mit Koboldstimme singt, ist nur ein Beispiel für Süffisanz. Aber sogar Uchihashi als der große Unruhestifter, der da seine Daxzungen streicht und klopft und eifrigst an Knöpfchen dreht, streut zugleich die zarteste Gitarrenpoesie ein. Und A23H, der seine kleine koreanische Oboe in der Bühnenmitte bläst, auf dem Tenor 'At last I'm free' anstimmt oder Poetry liest, die im Satz "Live is a liquid, drop by drop" gipfelt, kann man als Lyriker eh nichts vormachen. Solange es eine derart "verstörende" (O-Ton FAZ, FR...) "moderne Interpretation des Unsäglichen" (O-Ton Gropi) gibt, hat gediegenes Mittelmaß nicht das letzte Wort. Bleibt zu hoffen, dass es auch nach Peter Kempers Abgang so bleibt und sich im luxuriösen Rahmen des HR weiterhin das Allgemeine mit derart Besonderem paart.

Rigobert Dittmann in Bad Alchemy 88

ALFRED 23 HARTH - JOHN BELL Camellia (Kendra Steiner Editions #318, CD-R)

Zwei Kamelienherren im Miteinander von Dumas & Tagore, von 'Tea & Oil', von 'Gugak Fake & Love'. Vor allem aber ist es Sopransax (plus koreanische Tröter, Posaune und Percussion) seitens Harth, & Vibraphon (plus Tenorhorn und Buktrommel) seitens seines neuseeländischen Partners, den er nach einer gemeinsamen Tour an Koreas Südküste in sein Laubhüttenstudio gebeten hat. Bell, der aus Auckland kommt, ist keineswegs ein Nobody. Er hat mit Klunk 'Metallic', seinem Trio Spirals, Spoilers Of Utopia, Circling Sun oder dem Modern Jazz Q4tet seine Originalität gezeigt, auch wenn das, weil antipodisch, hinter dem Horizont blieb. Vielleicht mit einem Hobbit als Attraktion? Aber nun hat er ja Mr. 23 an der Seite, und teilt mit ihm eine Vorliebe für Peace & Entschleunigung. Fast nicht zu glauben, dass Bell kein Künstlername ist, so glockig wie er da klöppelt. Ältere Harth-Stücke von "eShip Sum" und mit dem Trio Viriditas und richtig alte von "This Earth!" und mit dem Saxophonorchester Frankfurt geben Gelegenheit, sich enorm lyrisch zu zeigen. Mit glasperlenspielerisch umtüpfelten Sopranostrichen oder -klecksen, die Harth ins Blau kalligrafiert. Wobei die Innigkeit des Ausdrucks quasi verlangt, dass der Strich nicht glatt und sauber ausgeführt wird. 'Transitoriness' ist dazwischen ein Ohrenzupfer als von Entenquak verunklarte Blasmusik. Atem und Spucke sind immer mit im Spiel. Dem nostalgischen 'La Place Où se Cachent Le Mot Oublié' folgt rasantes Geklimper wie 'Colors & Ornaments' und 'Rust & Petals'. Harth wird, keckernd und tutend, indem er hornissig durchs Taepyeongso surrt oder mit dem Piri den Mond aufbläst, immer wieder zur westöstlichen Hydra. Auch das gedehnte Lullaby 'Ending Peace Cloud' wird umgehend mit dem superquicken 'Brüche & Scherben' aufgekratzt konterkariert. Worauf wieder ein Stück mit geschliffenem Schwebklang wie von Glasharmonika folgt, während draußen Regen plätschert. Bei 'Starbucks' kommt beides, Harmonie und Dissonanz, zusammen, wenn schrottig geratschte Percussion die getragene Poesie durchzuckt. Auf den letzten zwei Minuten hüllt sich zartbittere Hymnik so sehr in Hall, dass die Laubhütte zum Kristallpalast wird.

[BA 88 rbd]

Confucius Tarif Reduit


JÖRG FISCHER spielte auch das Zünglein an der Waage und einiges mehr, als ALFRED 23 HARTH und MARCEL DAEMGEN sich Ende November 2014 wiederbegegneten und darüber austauschten, wie das 'Lebben' so gespielt hat seit ihren gemeinsamen Jahren in Imperial Hoot. Harth hatte für Confucius Tarif Reduit (sporeprint 1508-05) Reeds, Pocket Trumpet, Dojirak und den Geist des Dichters Li Bai um sich, Daemgen hantierte mit Electronics & Synthesizer, mit Arbeits-Ethos all inclusive. Neben Duchamp-Spirit gab's in der Hausbar auch Feuerwasser und Rübensaft, um die elektroakustische Symbiose zu fördern. Daemgen schraubt und korgt, bis es knarzt und spotzt, wölkt traumhafte Synthie­wolken, wellt surrende Wellen, lässt einen brausenden 'Hymnus' auf Sankt Feedback ertönen und gelegentlich sogar Beats kaskadieren. Fischer katert und murrt über Fell und Blech, klimbimt, sirrt, trapst mit Filzpantoffeln, drischt eisenhaltiges Bohnenstroh. Und Harth? Harth tutet einem die Tasche voll, köchelt heiße Luft auf Spucke, klappert mit den Klappen, keckert sopranistisch, kaut an Rossschweif und schlürft Bürsten-Borschtsch, er schmust tenoristisch und flötet allerlyrischst, mit raspeliger Echsenzunge oder auch mit gespaltener (in Kirk-Chekasin-Manier?). Und er wirft mehr oder weniger spontane Lyrik ein wie "Haha, die Bodenhaftung, mein Lieber..." oder "Hufeisen sind out". Bei 'The Asteroid Are We' und 'The Art of Explaining Art' ist bläserische Virtuosität Trumpf. Und obwohl sich Harth monoton für 'Kostenloses Vergessen' stark macht, erinnert er doch auch an den Totschlag an der Studentin Tuğçe Albayrak. You can burn Dada, but no one can burn Dada Bhagwan. 

[BA 87 rbd]

GIFT FIG: ALFRED 23 HARTH / CARL STONE Stellenbosch (Kendra Steiner Editions #298, CD-R)

Mit der Eichel aus dem Stadtwappen wird in Stellenbosch die Post gestempelt. Der Musik, die am 16.9.2014 in der Fismer Hall der dortigen Universität entstand, drücken zu Beginn Harths eindringliche Reeds den Stempel auf, dazu asiatische Frauen- und Babystimmen, die Stone verhackstückt, so dass sich gezogene mit flattrigen Klängen mischen. Das zweite Duett ist gleich durch Laptop, Kaoss Pad und zur Unkenntlichkeit verdünnte Samples bestimmt, die beidseitigen Schnipsel häufen sich, auch Stimmen geistern wieder zwischen elektroperkussiven Krakeln und Delayschnörkeln, eine Pipa gerät mit in den Strudel. Harths Saxophon kirrt wie eine Affenmutter, die eine Cheetah wittert. Der Klangstrom schleift und malt und wirft dabei Späne ab. Mit solchen zuckenden, kleinen Kaskaden hebt 'Overberg' an, Laute verschwinden in Luftlöchern und einem trägen Mahlstrom, der sprudelnd Pianogeklimper und Fetzen einer Männerstimme verrührt oder knarrend verlangsamt. Ein schriller Pfeifton pulsiert drüber weg, etwas Zitherähnliches federt, Harth bläst spuckig und elegisch. Gezogene Sirenenwellen und immer wieder Loops erzeugen Schichtungen und eine, wenn man das so sagen kann, undurchsichtige Durchlässigkeit. Mit Fetzen einer chinesischen Oper ist man dann schon bei 'Klein Karoo', wieder auch mit Stimm- und Pianofitzeln und einer Saxophonimpro­visation mit viel Feeling und Intensität wie schon ganz am Anfang bei 'Constantia', wobei sich das Saxophon jetzt aufspaltet zu rückwärts oder sonstwie eierndem, balladesk flötendem Frauen­gesang. Alles mischt und mengt sich und fließt halluzinatorisch durch einen durch, mit fernöstlichen Anmutungen marmorisiert. Die seltsam verunklarte Strömung und die Tempo­schwankungen lassen einen taumeln und schwimmen und staunen wie bei einer Peepshow in Hieronymus Boschs Lustgarten (die musikalische Hölle droht hier jedenfalls nicht).

[BA 86 rbd]

ALFRED 23 HARTH / WOLFGANG SEIDEL Five Eyes (Moloko Plus 078)

Alfred 23 als Labelpartner von Herbst In Peking, R. Stevie Moore, Column One? Wie das? Ach, da ließ der Widerstandsbewahrer Wolf Pehlke (1955-2013), Harths Brieffreund aus Sweet Paris-Tagen, der auch den Cover-Hummer lieferte, noch aus dem Jenseits seine Beziehungen spielen. Harths Partner hier einen Berliner Grafiker und Musiker zu nennen, wäre arges Understatement. Seidel hat auf der ersten Platte von Ton Steine Scherben getrommelt, fand deren Entwicklung dann aber so unspannend, dass er lieber mit Conrad Schnitzler weiter experimentierte, der seinerseits Tangerine Dream nicht mehr so prickelnd fand. Er sendete Klopfzeichen mit Kluster, sah mit Schnitzler schwarz, schlug (als Populäre Mechanik) die Weißen mit dem gelben Keil und kam dabei zum Spitznamen Sequenza. Harth und Seidel sind beide Jahrgang 1949 und gehören damit zu den 68ern, die von selbstgefälligen Moralaposteln nur zu gern als historische Irrläufer anschmiert werden. Schnitzler ist ein zweites Bindeglied, Beuys auf zumindest indirekte Weise ein drittes. In Schnitzlers Zodiak Free Arts Lab sind die beiden sich anno Steinschlag erstmals begegnet, jeder auf seine Weise interessiert an den Segnungen eines Dilettantismus, bei dem das Spielerische und Jedermenschliche das Herzstück bildet. 1983 kreuzten sich ihre Wege erneut. Exzerpte davon landeten auf Harths multimedialem Tagebuch Sweet Paris (1990). Es folgten für beide vehemente Orts-/ Zeitverschiebungen, Harth gen Seoul, Seidel in einem umgekrempelten Berlin. Aus der einstigen Selbstermächtigung wider die disziplinargesellschaftlichen und unterhaltungsindustriellen Zwänge ist ein, wie Seidel es nennt, bloßes Selbstunternehmertum in einem dog-eats-dog Kapitalismus ... in einer immer perfekteren Kontroll[...] maschine geworden. Geblieben seien, und wie gerne stimme ich dem zu, die Richtschnur 'Keine Macht für niemand' und die Praxis einer 'Herrschaftsfreien Musik' unter Gleichgesinnten. Zumindest hallt in 'Co-Traveller' ein bisschen was vom einstigen Fellow-Travellertum nach. Five Eyes und allen anderen nach Spy-Software benannten Titel nehmen Bezug auf den britisch-amerikanischen Geheimdienstverbund und geben Seidel Gelegenheit, seine Aversionen gegen deutsche Doppelstandards zu artikulieren. Während die Secret Services ihre trojanischen Pferde immerhin auch mit Jazz, Pollock, Rothko, LSD und poppigen Geheimbotschaften bestückten, klapperten in den deutschen Diensten steife Amtsschimmel und die Bocksbeine eines Dr. Mabuse. Ob allerdings 'Fives Eyes' als Tag ausreicht, um im Fadenkreuz einer nach nestbeschmutzenden Gedanken spähenden Software als harmloses Blinzeln zu erscheinen? Wobei Harmlosigkeit wohl auch schon unter Generalverdacht steht. Aber stürzen wir uns doch endlich in die in monatelangem Hin und Her montierten Clashes der beiden, ihre elektroakustischen Verwirbelungen, durch die Harths Saxophon und Posaune und die zungenredende Stimme von Nicole van den Plas geistern. Nicht nur durch 'Heartbleed' pulsiert Herzblut. Zu 'Tempora' darf man sich ein 'O mores' zwar denken, man kann es bei aller trauerflorigen Gedämpftheit des Bläsertons aber auch lassen. Die Stücke sind über jeden Nostalgieverdacht erhaben, in die jetztzeitigen Beats ist allenfalls mal eine psychedelisch freakende Vokalisation eingemischt, die an krautige Zeiten anknüpft, aber genau so gut auch jüngerer Weirdness sich verdanken könnte. Wir strudeln hier im heraklitschen Flow einer Sonic Fiction mit hohem Rauschfaktor, in einer surrealen Zentrifuge, Stichwort 'Turbine', die Beats und Klangpartikel schleudert und dabei auch Bill Shute loopt, der einen Zahlentext repetiert. Es gibt da eine faszinierende Insichspannung aus der pulsierenden, flickernden, schrotenden Rasanz und einer mundgemalten Melancholie. 'Anticrisis Girl' wird mitbestimmt von schamanischer Glossolalie, Harth lässt auf einem Orgelfond einen Chor von Nebelhörnern erschallen und schwenkt dazu eine flackernde Fackel. Aber jetzt bloß keine romantischen Vorstellungen, hier herrschen urbanes Tempo und der Overkill multipler Datenströme, die in alarmierendem Getriller und turbulenten Klangfetzen widerhallen. 'Man-On-The- Side' bringt zuletzt zu einem stoischen NEU-Beat Harthschen Singsang und Tenorsaxtristesse mit zartbitter belegter Zunge, der Anflug von Golden-Oldieness wird jedoch gleich wieder verhackstückt. Das glaub ich gern, dass das unsern Männern in Seoul und in Berlin Spaß gemacht hat.

[rbd BA 84] 

I see that paradise depends upon the work of ... LINDSAY COOPER (1951-2013)


Es kann nicht viele unter uns geben, die nicht berührt wurden von den Celebrations, die Chris Cutler im Andenken an Lindsay Cooper organisiert hat vor 1700 RIO-Aficionados im Londoner Barbican, vollem Haus in Huddersfield und etwa 700 in Forli (21.-23.11.2014). Einige sind ja sogar dabei gewesen, als Dagmar Krause, Tim Hodgkinson, Fred Frith, John Greaves, Chris Cutler, Michel Berckmans, Anne-Marie Roelofs, Zeena Parkins, Phil Minton, Sally Potter, Veryan Weston und Alfred Harth (w/ outstanding Teu- tonic Free Jazz noodling) Coopers Musik im Prisma von Henry Cow, News From Babel, Music for Films und Oh Moscow wiedererklingen ließen. Oh verfluchte Sterblichkeit, aber was für eine Geisterbeschwörung. Mit Berckmans, Harth und Hodgkinson als würdigen Stellvertretern, Parkins an einer Konzertharfe, Minton, der wohl selbst auf seiner eigenen Beerdigung noch aus dem Sarg springen würde, und der immer noch so phänomenalen Stimme von Dagmar Krause. Und mit Cutler als asketischem Energiebündel, das wie in alten Zeiten wirbelt und Lindsay Coopers Musik Flügel verleiht, Musik, bei der es zwischen 11/8 und 13/8 und 4/4 dann 5/4 und wieder 9/8 abzuzählen gilt und die sich anders rundet als nach Kindchenschema. Die Wackelbildchen davon auf Youtube werden durch meinen Tränenfilm noch etwas unschärfer.
Aber da gibt es ja auch noch Rarities (ReR Megacorp, ReR LC2/3, 2 x CD), ein von Chris Cutler und Udi Koomran zusammengestelltes Wiederhören mit auf raren Kassetten, 7" und Compilations verstreuter Musik der Frau, die zwar nicht die Patin, aber einer der Zündfunken für Bad Alchemy gewesen ist und nicht zufällig in ihrer femininen Souveränität Cover-'Girl' der # 2. Sally Potter erinnert im Booklet an die lesbischen und feministischen Webfäden in Coopers musikalischer Tapisserie. Tim Hodgkinson verrät, dass sie für Henry Cow eigentlich überqualifiziert war. David Thomas erinnert sie als tough genug, selbst ein Rattenloch in Madrid mit Fassung zu ertragen. Und Kate West- brook erinnert die glücklichen Tage on tour mit Westbrooks Rossini. Im ersten Teil erklingen ihre Theater-, TV- und Filmmusiken zu The Execution, Green Flutes, Domestic Bliss, With Our Children, Das nächste Jahrhundert wird unseres sein und Wir wollen lieber fliegen als kriechen, eingespielt zwischen 1979 und '87. Es ist das ein Füllhorn Cooperscher Tänzchen, Märschchen, Liedchen und Leitmotive mit den Stimmen von Krause, Maggie Nicols, Kate Westbrook und Celia Gore Booth. Und natürlich mit ihrem unerhörten Fagottsound und ohrwurmigen Sopraninokitzel, untermischt mit Singender Säge, Tenorhorn und eigenartig wehmütigen Tönen, die den Zauber erst vollkommen machen. Dazu kommen 5 Min. aus ihrem Concerto Per Sax Sopranino e Archi vom Angelica-Festival '92 mit hinreißendem Sopranino zu holzig geklopfter und von den Strings gepflückter Percussion. Auf Teil 2 spielen Cooper, Minton und Georgie Born eine 'Song of the Shirt'-Suite; Sally Potter singt mit der seltenen Untermalung von Conny Bauers Posaune, und Robert Wyatt mit 'In the Dark Year' eine Klage für die von Thatcher exterminierten Bergarbeiter 1984; in Höchstform waren David Thomas als Archaeopteryx- Spezialisten und Cooper als The Pedestrians im Hirschwirt in Erding. Unveröffentlicht war bisher 'Piano Roulette', wo Lindsay demonstriert, dass sie auch als Pianistin ganz Erstaunliches auf dem Kasten hatte. Und auch die 33 Min. des Trio Trabant live in Strasbourg 1991 sind eine Ausgrabung, aus dem Fundus von Alfred Harth. Ihre Begegnung im März '87 für die Musiken zu den TV-Filmen von Claudia von Allemann blieb keine Eintagsfliege. Dem Cooper-Harthschen Tête-à-tête auf dessen Plan Eden folgte eine Gegeneinladung zu Oh Moscow und dann eben ihr ebenso lyrisches wie bizarres Trio mit Minton als kreischende Elster. Da zeigt sich noch einmal kaleidoskopisch ihre improvisatorische Abenteuerlust und ja sogar elektrifizierte Virtuosität, die sie zusammen mit ihrer kompositorischen Stimme so unvergesslich machen.

[rbd BA 84]