Alfred Harth, der ja zu SÅJs 80. Geburtstag im November '23 „Heteronyms“ zu Gehör gebracht hat [https://alfred23harth.bandcamp.com], 2007 im Trio mit Uwe Oberg (BA 122), gab mir den Hinweis auf die Bandcamp-Seite von Sven-Åke Johansson. Die ist nicht nur eine wahre Fundgrube, in der seine zahllosen Musikprojekte zwischen Fluxus, Free Postmodernism und Ny Musikk umeinanderpurzeln, von der „Trilogie für Windgeneratoren“ und dem „Konzert für 12 Traktoren“ bis zum SÅJ Quartet mit Tristan Honsinger, Günter Christmann & Wolfgang Fuchs 1989 live im „Eiszeit Kino“ Berlin und „In Ulrichsberg 1991“ und und und. Er fächert da sein überreiches Lebenswerk auf von BBQ, dem Bergisch-Brandenburgischen Quartett, und den Duetten mit Rüdiger Carl, Alexander von Schlippenbach, Ignaz Schick, Jan Jelinek oder Michael Renkel bis zu all that Dschäss mit Night and Day, Hudson Riv, dem Cool Quartet oder Ol' Man Rebop Ensemble. Dort findet man neben Klassikern wie „For Adolphe Sax“ (1967) im Peter Brötzmann Trio, dem Drumsolo „Schlingerland / Dynamische Schwingungen“ (1972) oder „Djungelmusik med sång“ (2000) mit Carl nunmehr auch die 4-teilige Edition „EMT 1973“ (digital). Mit – wie auf der LP „Canadien Cup of Coffee“ (FMP, 1974) – dem bloßen Trio mit Alfred Harth (ts, as, ss, clarinets, flutes, zither, nafir, cowbell, khaen, gong, bells) und Nicole van den Plas (Piano) in der Fabrik Hamburg. Sowie zu fünft mit noch Jean van den Plas (double bass) und Helmuth Neumann (Trompete, Schalmei) bzw. – in Frankfurt – mit Hans Schwindt (alto sax) und Nicole dabei jeweils an elektronischer Orgel. Hätte ich diese extraordinäre Musik damals als Abiturient schon gekannt, wären mir die 70er als gruselige Jahre der Entfremdung und Desorientierung erspart geblieben? Hätte mir die von rüttelndem Drumming und fieberndem Pizzicato vibrierende Musik mit schmetternder Trompete, schillernder Orgel und zwischen Feuer, Feeling und Katzmiau schlingernden Reeds mit ihrem Aufbruchsangebot eine Abkürzung hin zu etwas mehr Sinn und Verstand beschert? Oder mich erstmal nur als Feldmaus noch mehr verschreckt? Mit heißen Ohren und von schrägen Frequenzen prickelnder Kopfhaut durch SÅJ als Hornist der dadaistischen Krawallerie und animalischem Blech-, Propeller- und Knüppel-aus-dem-Sack-Trommler und durch van den Plas' cecil-tayloreskem Tastenwirbel. Das wäre was gewesen, wenn Harth zu Zither singend, mit Sonnenaufgangs-Gongschlägen, energisch geschüttelten Glocken, der Khaen als Mundharmonika, sprudelndem Soprano, aber vor allem der ayleresken Tenorsaxhymnik mich da schon hätte kicken können wie später dann hoch x mit Cassiber. Ohne diese Erfahrung vergingen noch 10 Jahre und erst Barbara Thompson's Paraphernalia und Charlie Mariano (im Stadttheater Würzburg) trugen mich hin zu Brötzmann und zur Skeleton Crew (im Bursekeller). „EMT 1973“ ist im Mut zu Dada, zu Brüchen, Fragmenten, Zitaten und grenzübersteigendem Anything goes und als Link zu Goebbels-Harth und Cassiber jedenfalls ein Hörtipp, der für allerhand Erstaunen gut sein dürfte. [BA 124 rbd]
Heteronyms - ALFRED HARTH, SVEN-ÅKE JOHANSSON, UWE OBERG
Heteronyms (alfred23harth.bandcamp.com): Die Bandcamp-Site von Alfred Harth ist eine Fundgrube für Weisheiten wie „Work is Love made Visible“ – als Überschrift für ein Gedenkkonzert zum 10. Todesjahr von Johnny Dyani, oder „Just like the crackles on vinyl, let's embrace life's imperfections together“ – für eine Retrospektive auf das Alfred-Harth-Jazztett 1965. Anlässlich des 80. Geburtstags von Nicole van den Plas im Oktober und von Johansson im November 2023 offeriert A23H als Ständchen ein im August 2007 im Jazz-Institut Darmstadt gespieltes Konzert, das in der Besetzung an EMT anknüpfte, Harths frühes Trio mit den beiden Geburtstags-'Kindern'. Der Titel spielt an auf Fernando Pessoa als Mann mit vielen Gesichtern und Namen, dessen „kreative Vielgesichtigkeit“ sich wiederfindet bei sowohl SÅJ als auch A23H. Pessoa wird mit 'The Whole Moon, Because It Rides So High, Is Reflected In Each Pool', 'Woven Twilight', 'Blurred Portrait of Ricardo Reis?', 'My Soul Is A Hidden Orchestra', 'Followed An Abstract Deliberation Which Immediately Took The Shape Of An Ode', 'Fake Death Of Rafael Baldaya', '5. Januar Ein Mittag Traum', 'Nullity Was A Muse' und 'The Hook of Disquiet' zum Resonanzboten für die von Harth mit Tenorsaxophon, Klarinette, Kalimba, Dojirak, Kaoss Pad, One String Thing, Mouth Harp, von Oberg mit Piano, Inside Piano, Mbira, Xylofon, von Johansson mit Drums & Karton kreierte Musik. Zwischen quiekender, züllender Kakophilie, murxend gesägtem Karton, schmatzender, fauchender und tapsiger Unruhe findet Oberg ebenfalls schnell von quirliger Klimperei zu pickenden und plonkenden Machenschaften. Aber Harth wäre nicht Harth, würde er nicht auch seine sensationelle Artistik als tenoristischer Feuerspucker und inniger Sänger aufstrahlen lassen, Oberg nicht Oberg, würde er nicht bruitistische Unbeschreiblichkeiten mit arpeggierter Poesie konterkarieren. So reiben sich Art Brut und Kinderspiel mit Phantasterei in extented techniques und mit krachverliebtem Gusto. Gefühlvoll geblasene oder gefingerte Klänge sind gut Freund mit schiefen Tönen, geharften und gekratzten Drähten, gewetztem Plastik, monoton gepaukten oder schrottigen Schlägen, und wechseln auch wieder selber auf die dissonante, die 'primitive' Seite. Bis hin zu gepingtem Xylophon und beunruhigendem Noise. [BA 122 rbd]
Foxfur
ALFRED HARTH greift gern und mit guten Gründen zurück, denn es ist vielleicht doch etwas mehr als nur ein You Must Remember This: Mit „Who Shot the Rabbit?“ verwies er auf Trio Trabant A Roma 1992, mit „Neowise“ auf Gestalt Et Jive 1985, mit „Reklame der Wirklichkeit“ auf dieses Nonett anno 1982, mit „Y Not“ auf The Punkjazz Group 1979. Mit Foxfur (Bandcamp, digital) geht es zurück bis 1973, also zwischen „Just Music“ (ECM, 1969) und „Canadian Cup of Coffee“ (FMP, 1974). Harth hatte Nicole van den Plas, seine Partnerin (neben S.-Å. Johansson) in E. M. T., 1969 bei einem Festival in San Sebastian kennengelernt und mit der belgischen Pianistin erst einige Jahre in einem Kaff bei Antwerpen gelebt, bevor sie nach Frankfurt zogen, wo sie oft genug hingependelt waren. Was man hier zu hören bekommt, ist hier und da entstanden, mit Harth an ss, ts, bcl, cl, Gong, Nafar, van den Plas an (Inside) Piano (beide zudem mit perc. & voc.), ihrem Bruder Jean an Viola & Harmonica und dessen Frau Liliane Vertessen bei einer Gelegenheit mit tb & tambourine (die beiden kamen ja auch ins Spiel bei E. M. T.). Es hebt mit 'Incantation' so herrlich katzenschräg an, als hätten sie den chinesischen Jackpot geknackt. Mit 'Junge Zugfahrt' kommen Krach und Tempo dazu, Esmeralda tanzt im Intercity mit Tambourin zu Jeans Bluesharp. Nicole stellt Yoko Ono in den Schatten, tobt im Innenklavier, Jean schrappelt die Viola als Banjo, Harth schrillt, was das Zeug hält. Und sopraniert zu Pianowellen '„…Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser.“ (F. Hölderlin)', dass es einem durch und durch geht. Wer glockenspielt und paukt da bei 'Palazzo' als Art Brut-Bajazzo? Oben kreuzt ein Flugzeug und Kirchenglocken läuten. 'Foxy Oscillations' zieht mit dem Violabogen bei lebendigem Leib 's Fell über die Ohren, dazu schwillt, geblasen und vokal, ein Dauerdröhnton, doch Klarinettenpoesie will davon nichts wissen. Aber 'Late Night Canto' schwelgt weiter, mit Kratzebogen und schriller Stimme, in diskanter Kakophonie versus Pianoarpeggio und Weißclownsax. A.A.C.M. meets Fluxus? Wie konnten DANACH die Punks damit durchkommen, dass SIE Punk erfunden hätten, die 'Dilletanten' damit, dass SIE genial wären? [BA 119 rbd]
ZZAJ: Jazz from the 23rd Century
Die Antwort auf Alles ist... 42. Die Antwort auf „What is Jazz and where is it going?“ ist ZZAJ: Jazz from the 23rd Century (discusmusic.bandcamp.com/album/zzaj-jazz-from-the-23rd-century, 2xCD). Die dazu aufgefordert haben, Jazz so auf den Kopf zu stellen, dass es nach Übermorgen klingt, waren Jerry „Cthulhu Moon“ King (Cloud Over Jupiter) & Dave Newhouse (The Muffins), Spielgefährten in Manna/Mirage, dem AmeriCanterbury/RIO-Projekt von Newhouse, und in Kings Moon X. Unter den Ausgewählten sind jede Menge Namen, die einem die Ohren klingeln lassen. Fast wirkt das, womöglich nicht zufällig, wie ein Update des legendären „Recommended Records Samplers“, 40 Jahre danach, von „A Classic Guide To No Man's Land“ (1988) und Cuneiforms „Unsettled Scores“ (1995): Amy Denio (mit Klarinettenschmus, Scat und Rap – remember the Tone Dogs!)! Elliott Sharp (der Guitar-Popeye von Semantics, Carbon, Terraplane, akustisch verzwirbelt mit Piezo und Processor)! Haco (die After Dinner-Legende, örtlich betäubt, mit in Keysklangschwaden verwehtem Hauch)! Alfred Harth (als Bassklarinettentwister – this is a cool track, man!!)! Marmhelodic Rascals (Henry Kaiser, John Oswald, Jim O'Rourke, Greg Goodman et. al. mit George Cartwrights irrwitzigem 'The March (or Ornette Went Over To Cecil’s House, But Left After About 10 Minutes)' – mit 9 ½ Min. DER Killertrack!)! Nick Didkovsky (Dr. Nerve's Mastermind, mit Han-Earl Park als die gitarristischen 2/3 von Eris 136199)! David Moss (mit seiner Vox Paradiso zu Kalimba- & Beatboxgroove)! Paul Sears (als weiterem Muffin und Onemanband mit einem Lob der Narretei)! Henry Kaiser (mit einer struppigen Lektion darüber, wie Sonny Sharrock, Derek Bailey, Larry Coryell, Pete Cosey und Frank Zappa selbst gegen den 'funny smell' des Jazz angestunken haben)! Geoff Leigh (Henry Cow's Pan mit Compaxident 1 als fetzigem Meta-Saxtrio anno 1987 im No Man's Land mit Byard Lancaster & John Van Rymenant)! Steve Beresford (die direkte Verbindung zwischen Frank Chickens und A23H, mit hintersinnig geklimpertem Yin-Yang)! Frank Chickens (Kazuko Hohki schmust zu Clive Bells Akkordeon)! und Atsuko Kamura (das andere Chicken mit einem Musette-Chanson in ¾-Takt) noch extra. Nur leicht verjüngt, wirkt es wie ein Rendezvous alter RIO-Hasen mit Erben dieses Spirits, cisatlantisch mit Martin Archer (mit dem elektronisch durchstochenen Sax-'Song for John Gilmore') und den belgischen Intige Taluure (mit einem surrealen Lovesong in schleppendem Dreh), mit Argument Club (der von Ulrike Meinhoff und Robert Wyatt inspirierte Paul Morris aus Edmonton, baileyesk zupfend, wonnig harfend, in memory of John Russell), dem argentinischen Gitarristen Leandro Kalén (als Plural southern-groovy), doch vor allem US-Mavericks: ➞Amanda Chaudhary ('Donershtik'-funky mit Calvin Weston, Jamaaladeen Tacuma, Myles Boisen, Steve Adams), ➞Nubdug Ensemble (Jason Berry mit dem hyperkomplexen, chaudharysierten 'Entr'cte'),Dereck Higgins (mit besaxter Blubberelektronik), Pete Prown & Jeff Gordon (als Gitarren-Grifter mit Phantomtrompete), Shawn Persinger is Prester John (ex-Boud Deun, als plunderphonisches Einmanntrio), Anthony Coleman (mit Monk-und Strayhorn-Spirit in tiefblauer Pianotristesse), Brian Woodbury (mit seinem Variety Orchestra und einem Musical-Lobgesang auf New York)! Lunar Asylum(Mikko Biffle als Leftfield-Gitarrengott im Monsterjam mit alten Freunden), Forrest Fang (mit einem March of the Wooden Soldiers), Anthony Pirog (auf knarzig kakophonem Marsch ins Ungewisse), Greg Segal (der Gitarrist von Paper Bag/Bag:Theory als Piano-Drum-Synth-Hydra), Ron Anderson (der Mezcal testende, Bolano bewundernde Gitarrenwürger als Tremolo pickende Panzerabwehrkanone – über alles Molecules!), Tom Djll (der mit unglaublicher Elektro-Trompete 'The Black Bird Bossa' tanzt) sowie Killick Hinds (mit leichthändigem Appalachian Trance Metal). Dave Newhouse selber, der aus Marysocontraryland auch Artwork beisteuert (ebenso wie Pete 'Guitar Garden' Prown in Pennsylvania), bläst mit melancholischem Baritonsax zu gezupftem Cello und Klapperperkussion von Segal. Jerry Kingspielt 'Avalon (For Dereck)' mit Higgins und pustet Posaune zu Poetry von John Shirley (Cyberpunk-Autor, Lyriker für Blue Öyster Cult und Kings Partner bei „Spaceship Landing in a Cemetery“ und „Escape From Gravety“). Festgenagelt on this insane planet in this insane country, wie Ron Anderson auf www.youtube.com/mylungpuppy brummelt, sind wir doch auch darin vereint, dass das Leben dennoch zu kurz ist und all that jazz nicht zu fassen. Und im 23. Jahrhundert? Gegen welchen Scheiß wird 'unser Jazz' als 'last jazz standing' dann wohl anstinken müssen? [BA 118 rbd]
NISCHEN
TASTE TRIBES Nischen (Moloko+, PLUS146): Es scheint kompliziert und hat doch einen roten Faden, ein Mem-Cluster, das durch die Zeit getragen wird. Bei Alfred 23 Harth heißt es 1967 ff 'freie cunst', 'Just Music', „herrschaftsfreie Musik“, es findet sich 1968 bei Conrad Schnitzler und Hans Joachim Roedelius im Zodiak Free Arts Lab (als Brutstätte für Tangerine Dream, Kluster, Ash Ra Tempel, Agitation Free... in der Schaubühne am Halleschen Ufer) in Berlin, 1970 in Hamburg bei Hans Joachim Irmler und Faust, 1982 ff beim Zodiak-Lauscher Wolfgang Seidel in Populäre Mechanik, 1985 ff im Auf-Schlag von Günter Müllers Elektrozeug. Harth fädelte all das auf, 1968 in einer Zodiak-Session, 1983 mit Populäre Mechanik, 1987 mit Müller (live und bei „Plan Eden“), 2007 mit Irmler & Müller („Taste Tribes“), 2010 mit Irmler („Faust is Last“), 2014/15 mit Seidel („Five Eyes“, „Malcha“). 2021 wollten sie bei der „Bildet Nischen!“-Reihe des HAU (Hebbel am Ufer) das Zodiak-Kontinuum evozieren, und Irmler an Keyboard, Müller an iPods & Electronics, Seidel an Drums & Synth taten das auch, Harth, durch Corona ausgebremst, komplettiert Taste Tribe dennoch, mit Sax & Vox von Geisterhand. Für eine Seance, die mit 'Vormärz' das Streben nach Emanzipation und Demokratie und den Geist von Büchner und Heine beschwört, mit 'Schaubühne' und freakrockigem Altissimo wohl Peter Stein, mit 'Zodiak' & 'Eruption' Schnitzler & Co. 'Freiraum' sagt, um was, 'Glutmensch', um wen es geht. In einer elektroakustischen Hochzeit von Sphäre und Feuer, bruitistischem Flux, lyrisch Emotivem, dröhnender Drift, erregtem Puls, flickerndem und orgeligem Flow, coolem Tamtam, pressender, schmauchender Intensität. Harth singt mit Vocoder-Vox Wenn das Plasma schmilzt in deinen Augen... keine Wiederkehr drinnen oder draußen und bläst kosmische Wirbel. Der tribalistische Trip dieser Hitech-Schamanen führt in die Tiefe des Raums und der Zeit, in deren Nischen es glüht, pulst und brodelt, Kaskaden und Protuberanzen glitchen und saxen, melodische Schlieren mischen sich mit polymorpher Expression. 'An Instance of Something that is Grand' bringt nochmal Seidel'sches Tamtam, umwallt von maunzender Bassklarinette. Zuletzt salamandert ein Elektrolurch zu fernöstlichem Lärm, oder sollte ich sagen: zu gelbem Klang? [BA 119 rbd]
Sweet Paris (Reloaded)
ALFRED HARTH ~ PETER FEY Sweet Paris (Moloko+, PLUS115, 2xCD): Eine Reise, nein, nicht mit dem Fahrrad ohne Licht durchs nächtliche Frankfurt – das wäre Peter Fey allein („Wenn mein Fahrrad Ohren hätte“). Vielmehr ist es eine Zeitreise in die Spät-80er/Früh-90er-Jahre, als Harth in Oh Moscow, Vladimir Estragon oder Trio Trabant a Roma mit Lindsay Cooper und Phil Minton musizierte, aber zugleich Collage, Montage und das Cut-up von Jürgen Ploog und W. S. Burroughs für seine Theater-, Film- und Hörspielmusiken nutzbar machte. Auch in „Sweet Paris“ (Free Flow Music Production, 1991), geschichtet aus poetischen Paris-Eindrücken, die der Karlsruher Künstlerfreund Wolf Pehlke (1955-2013) brieflich mit Harth, dem Mann mit dem Saxofon, geteilt hatte. Daraus geradebrechte, englisch übersetzt oder einfach so gelesene Zeilen über Untergeher in den Bars, auf dem Friedhof, in der Metro, in Hiroshima-mon-amour-durchschauerten Nächten, in von Hynkels und Dalis Schnurrbärten eingeklammerten Zeiten, hat Harth hörspielerisch vitalisiert mit Pariser Flair und persönlichem Sentiment – auch er hat damals ja Paris durchstreift. Und durchwirkt mit eigenen musikalischen Sedimenten, voller Saxfeuer und Feeling, durch Kassettenmaterial mit u. a. Nicole Van den Plas, Christoph Anders, Peter Kuhlmann aka Namlook, Wolfgang Seidels Populäre Mechanik, La Guardia und Gestalt et Jive, bis zurück zu seinen 'Melancholy Blues'-Anfängen als Teenager. Dazu hatte noch, mixerisch und mit Elektro-Beats, Peter Fey die Finger im Spiel, eine Doppelexistenz aus Arzt der Psychiatrie und Musiker (mit einst Collectionism und jetzt Ugly Species), und mit seinem Tonstudio aufnahmetechnisch involviert bei Gestalt et Jive, Harths Creative Works und Imperial Hoot, Heiner Goebbels, Achim Wollscheid, Rüdiger Carl oder Uwe Oberg bis hin zu Ekkehard Ehlers, Brian Eno, Jan Peter Schwalm und Panacea. Was damals gestalterisch in der Luft lag, als Versuche, Bretons künftiger Schönheit konvulsisch zu entsprechen, hört man von „Anything goes“ bis hin zu „SHADOW / Landscape with Argonauts“ oder Jac Berrocals „Fatal Encounters“. Und besonders schön hier, von 'Pyramides' und 'Oberkampf' bis 'Invalides' und 'Sweet & Bitter Little Death', und allem zum Trotz nicht ohne leise Hoffnung unter von Katzenpfoten getupftem, von Bassklarinette lüftlgemaltem Gewölk.
Samstag-Nacht, während ich beim Freakshow Artrock Festival →Ghost Rhythms lauschte, brachte SWR2 „Sweet Paris Reloaded“ - Harth & Fey (+ Van den Plas an Piano & Organ), 30 Jahre später, mit einem brandaktuellen Update. Zu 'Cambodia' und 'Stalingrad' braucht man nur Afghanistan und Mariupol denken. Sie lassen nochmal Sun Ra, Rimbaud und Breton als Kometen aufleuchten, die Nouvelle-Vague-Jahre einer Generation in Zeitraffer vorüberziehen, die Saxflamme an den Gräbern von 'Unsterblichen' aufflackern. Mit melancholischem Singsang und - insgesamt textbetonter - ungehörten Zeilen von Wolf Pehlke, der sich auf dem Hundefriedhof unter Seinesgleichen fühlt, der in wortkargen Nächten Absinth nippt in Gedanken an Komplizen wie Proust, Max Ernst, Oscar Wilde, der sein Glas Wodka erhebt für Colette, Gertrude Stein, Simone Signoret, der unbesiegbaren Afrikanerinnen und Vietnamesinnen nachschaut, selber nur Sklave, Laborratte, Wurm, der sich in trostloser Stille selber frisst. Einfühlend gesprochen ist das von Wolfram Koch (dem Frankfurter Tatort-Ermittler). Friedhöfe verstauben, Philemon und Baucis verwittern, aber Flucht und strandende Rettungsboote haben weiterhin glänzend Konjunktur. Pehlke/Koch beschwört Huysmans, Belmondo, Beckett als von Akkordeon umschillerte Nothelfer, die aber vorwurfsvoll den Finger in Wunden legen. Die Rastignacs machen Karriere, auf ihn, Mann ohne Eigenschaften im existenziellen Exil, Schwindler-Kojote mit wunden Füßen, Statist auf Peter Brooks' leerer Bühne, Voyeur weißer Wände, Hüter weißer Blätter, scheißen die Tauben. Die Zukunft wird blond sein wie Marilyn Monroe und ums Goldene Kalb tanzen, sie wird ein Archiv sein und unter ihrem Gewicht erstarren, sie wird nur noch ein der Addition und Subtraktion unterworfener Haufen von Pixeln sein, sie wird hysterisch, sie wird anarchistisch, sie wird gewesen sein. Und Gottes Ebenbild wird dabei so obdachlos bleiben wie immer schon und überall, erniedrigt und verbraucht, Bodensatz für unsere trockenen Füße und unsere jämmerliche Gemütlichkeit. Dylan wurde nobelgepriesen, die Nürnberger Protokolle zum Arschwisch, doch Pehlkes Briefe, kindlich zum babylonischen Papierturm gestapelt, trotzen dem Vergessen. Und der Vorgeschmack des Glücks und der Vergänglichkeit, er schmeckt am Mundstück der Bassklarinette so bittersüß wie eh. [BA 116 rbd]
Alfred 23 Harth (Frankfurt/Seoul)
Die mit Trio Trabant A Roma, Gestalt et Jive und The Punk Jazz Group (→BA109) begonnene Öffnung seiner Archive setzt A23H fort mit Memoria Eschatologica (digital) als Hörstück zu Chernobyl und Erinnerung an die letzten Dinge, Agonie und Tod. Realisiert hat er das 1992 als 23-min. Kladderadatsch aus dramatisch-katastrophisch rhythmisierter Sound Art, zerfetztem Chorgesang, homöopathisch eingerührtem Blockflötenorchester und einem ein Havarieprotokoll sprech-singenden Paar mit dem Frankfurt City Blueser, Kunstdandy, Krankenpfleger und 2020 mit "Frittenmoni" sogar Opernkomponisten August Scheufler. Die Überschrift stammt von Alfreds Bruder Dietrich Harth, einem Spezialisten für Mythos und Ritual als Geburtshelfer von Kultur und Kunst, nämlich dessen 'Versuch über Matthias Grünewalds Isenheimer Altar' (in "Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung", 1991). Die Erinnerung an die 'Dialektik von Produktion und Müll' und ihre agonale Ratio wurde gerade erst mit dem 5-Teiler "Chernobyl" (ProSieben) aufgefrischt. Die Affinität von Kunst zu Trash, Müll, Kontamination ist schon länger so ambivalent wie chronisch. Die Ästhetisierung von Scheiße & Dreck ist ja zugleich ein darin Wühlen, das mit dem Ecce Homo-Fingerzeig von Grünewalds Johannes (als Covermotiv!) auf die - in den Krematorien von Auschwitz zum Äußersten getriebene - 'Logik des Systems' hindeutet: 'Müllverbrennung' als Perpetuum mobile eines Teufelskreises und sine qua non von Wohlstand durch Wachstum, von Gedeih durch Verderb. Das zu 'zerrütten' durch Gegenerinnerungen, Ausgrabungen, dem Lesen verwischter Spuren und sogar Wehtun ist doch das, worum es in BA immer schon geht. Und wird hier - in memoriam 10 Jahre Fukushima und 35 Jahre nach dem 26. April 1986 - exemplarisch vor Ohren gezerrt, mit sarkastischen und grotesken Zügen. Brechts „Glotzt nicht so romantisch!“ ist abgewandelt in „Was nützt das schönste Pathos, wenn alles beim Alten bleibt?“
Auf Film and theater music compi II (digital) zu hören sind ALFRED HARTHs Soundtracks für ZDF-Dokus: Zu "Luther und die Deutschen" (1983) über den abergläubischen Mönch ohne Sinn für die tiefere Not seines Volkes (H. Ball) und die als mächtiger Hasser riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens (Th. Mann) - mit Brass und attackierendem Getrommel (Uwe Schmitt) in aufbegehrenden Schüben und mit feierlichem Pomp, als innerer Widerstreit mit kecker Auflösung. Zu "Letzte Vernunft" (1986) über den Alten Fritz und den Krieg als die Ultima Ratio des aufgeklärten Flötenspielers oder despotischen Gerippes der Pflichterfüllung und des Sadismus (wieder H. Ball) - flötenfriedlich, reedschmerzlich, mit Trompete zum Kriegstanz bittend, mit Bassklarinette die Wunden leckend und auf dem letzten Zahnfleisch humpelnd. Sowie zu "Geheime Welten" (1990) über dem Secret Intelligence Service, den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 - Kim Philby und die Cambridge Five? George Blake? Bond, der Name ist Bond? Ach, die Kalten Krieger von Maulwurfshausen - in helldunkles Zwielicht, in zwielichtiges Pathos getaucht, honorige Blender, wühlend für das eine oder andere Vaterland, mit gezinkten Keys, verrauschten Electronics, Saxtristesse. Dazu gibt es ebenfalls mit mehrspurig Reeds, Flutes & Electronics gestaltete Exzerpte seiner Theatermusiken für Fernando Arrabals "Der Architekt und der Kaiser von Assyrien" (Schillertheater Berlin, 1988) - saxelegisch auf driftenden und pulsenden Synthiesound gebettet und aufs Bergeversetzen hoffend. Und für das gut gemeinte Sich-Vergreifen am Ungewöhnlichen in "Elysian Park" nach Marlene Streeruwitz (Deutsches Theater Berlin, 1992) - mit dezisionistischem Keysstakkato, verzerrter, überdrehter Tonbandspur, himmlischem Phantomchor, Kartontamtam, immer wieder lyrischem Gebläse, das die Gefühlsskala beharft, wie es Harth so leicht keiner nachmacht, und zuletzt einer abwechselnd rhythmisch aufgewühlten oder unberührten Dröhnwelle.
https://alfred23harth.bandcamp.com
[BA 111 rbd]
"Balance Action" Erwähnung in BA 110
Der Toningenieur & Sounddesigner RAVIL AZIZOV (1962-2018) ist mit Sergey Karsaev & Orkestrion in den goldenen Annalen der New Music from Russia verzeichnet und hat, kleine Welt, mitgewirkt an "Balance Action" (1992), Karsaevs mitreißenden Film über Alfred 23 Harths Eroberung von Moskau, Lenin- & Stalingrad. Acme (FANCY167) wurde 2017 eingespielt im Red Wave Studio, St. Petersburg, wo Azizov sich den Spaß nicht hatte entgehen lassen, mit The Grand Astoria, dem dortigen Psychedelic-Prog-Eisbrecher, Klarinette zu blasen. Die Session verzahnt schwindelfrei impulsive und echauffiert krähende Klarinetten-Altosax-Trios mit →Alexey Kruglov und dem Braunschweig-Tallinn-Pendler Vlady Bystrov mit jubilierendem Holterdipolter oder versonnener Tagträumerei zu viert mit dem Drummer Oleg Yudanov. Und zuletzt mit obendrein noch zwei Pianisten besonders invasiv auf Schleichwegen hin zur crescendierenden Eruption.
[BA 110 rbd]
Alfred 23 Harth: THE PUNKJAZZ GROUP
Die kulturelle Standortqualität ist mittlerweile dAS Bobo-Kriterium. Franfurt am Main hat da gepunktet mit dem Museumsufer, der Städelschule, der Schirn, der Buchmesse, dem Jazzfestival, Jazz im Palmengarten, dem Ballett einst mit Forsyth und Fabre, dem Theater am Turm (bis 2004) mit Stücken von Heiner Goebbels, als Technohotspot mit Sven Väth, Force Inc. Doch als Gunst für Frankfurt hat Alfred Harth sehr schön die treffliche Lage vermerkt mit: im Osten die GI-Clubs mit Jazz, R&B und den Monks, im Süden die Darmstädter Ferienkurse, im Westen die Fluxusbewegung in Wiesbaden, im Norden die documenta in Kassel. Neben dem Duo Goebbels/Harth (1975-1988) machte A23H da mittendrin noch allerhand eigenen Wirbel, meist mit dem zuletzt noch in Gestalt Et Jive involvierten Drummer Uwe Schmitt an der Seite: als Medial Move, im Buschi Niebergall Trio, bei Abrazzo Oper und dem Nontett Reklame der Wirklichkeit.
Und mittendrin - 1979 -, mit noch Christoph Anders - vox, Nicole van den Plas (von E.M.T.) - farfisa organ, Frank Diedrich - bass git. und Peter Kuhlmann - git. in THE PUNKJAZZ GROUP. Für Harth und Anders war das ein Durchlauferhitzer hin zu Cassiber, für Kuhlmann, da noch keine 19, die musikalische Entjungferung. Nicht dran zu denken, dass aus ihm jenseits des Jazzrocks mit Romantic Warrior der ambient-pluriversale FAX-Macher Pete Namlook werden würde. Aber das ist eine andere Geschichte und eine traurige dazu, denn er ist 2012 mit noch nicht mal 52 an einem Herzinfarkt gestorben. Wir reden hier aber von jenen Zeiten, in denen sich Frankfurt statt auf Zoo, Flughafen, Mainhattan oder Mille Plateaux auf Pflasterstrand, Fronttheater und Batschkapp, kurz: auf Sponti-Bewegung reimte und das Sogenannte Links- radikale Blasorchester mit gelben Birnen schmiss.
1979 war nach dem Revoluzzer-, Putztruppler- und Indianer-Sein das Punk-Werden angesagt - "die intelligenteren Ausdrucksweisen von Punk" (also 'Studentenmusik') [faktisch klang's in Ffm wie auf dem Kassetten-Label Walters Lust - Bildstörung (mit Peter Prochir) oder Toto Lotto (mit Anders)...; Eric Hysteric spuckte als Möchtegern-Pop-Analphabet nach Vomit Visions auch mit The Esoterics auf "Späthippies und Möchtegern-Intellektuelle", die 'echten' Punks moschten zu Middle Class Fantasies und Böhse Onkelz im JUZ Bockenheim]. Politik in erster Person, lautete die neue Sponti-Parole. Aber wie geht das, halstief im 'Sumpf', durch die Kommerzmangel gedreht und nix als herbstgraue Wolken überm Scheitel? Ziemlich anders als der Tunix-Sound (Missus Beastly, Embryo, Teller Bunte Knete) und der Trikont-'Stunkfolk'. Und statt post-Stammheim-depressiv mit einem trotzigen Y Not (alfred23harth.bandcamp.com/album/y-not). Mit der Ermutigung wohl durch No Wave und die Funk-Punk-Contorsions von James Chance, mit deklamatorischem Gesang auf Englisch, aber auch schnittig abgezirkeltem Tenorsaxzickzack von Harth & Anders zusammen, knackig rhythmisiert, mit knurrigem Bass, gitarristischen Splitterchen (aber auch bluesrockigen Einwürfen). Als 'Kollision der Genres' und "erkennbare melodische und rhythmische Strukturen" wurde das dann bei Cassiber programmatisch. Anders' Verve, teils spontan artikuliert, streift öfters ans Schreien, ebenso wenn er altissimo fiept zu Harths Bassklarinette und Vokalisation von van den Plas. Simple Muster, rock'n'rollige Anklänge und Seehundcluster oder Zweifingerfarfisa im spöttischen Widerspruch zu Harths Sopranotirili proben, im groovigen Motion-Emotion-Taumel die Nestflucht vom Jazz in ein Mainhattan-Vorgefühl. I was feeling sick / I was losing my mind. / Gimmegimmegimme a shock-treatment / I get happyhappyhappy all the time. Definitiv 'punkig' sind die immer wieder abreißenden Kassettenfetzen aus dem Bunker Bornheim. Das lässt einen flippern von 'Chevrolet' zu Chor- 'Gesang', zum wilden Jam mit Saxfeuer, 10-Finger-Orgel, Psychgitarre und flehend geschrienem So alone So alone (mit zuckenden Störgeräuschen als krassem V-Effekt).
[BA 109 rbd]
GESTALT ET JIVE - Neowise (almaslakh.bandcamp.com)
In den Nachwehen heroischer Phasen ergeben sich oft die ergiebigsten Möglichkeiten. So bietet die Postmoderne als Humpty-Dumpty-Stadium der Moderne die Freiheit, alles Vorgefallene aposteriorisch aufzubereiten. Das Post- darf dabei nicht schrecken, Post-Punk (und No Wave) z. B. lieferte(n), synkretistisch, sophisticated, der Dynamo schräg gestellt zum Wind der Dinge, definitiv den besseren Punk - denkt an This Heat, The Fall, Wire, Essential Logic, The Pop Group, PIL, D.A.F., The Raincoats, Ludus, Joy Division, The Homosexuals, Family Fodder, The Deep Freeze Mice, Laughing Clowns, The Work, Rip Rig + Panic, die Art Bears, The Ex, Massacre... A23H nennt "Es herrscht Uhu im Land“ (1981) als weichenstellend für die Idee, Creative Jazz, Instant Composing, Art Rock und Post-Punk alchemistisch aufzumischen. Mit Cassiber [1982-85], Duck and Cover [1983/84], und 1984-88 mit GESTALT ET JIVE. In Frankfurt wurden da in abgeklärter Könnerschaft die Töpfe für "Nouvelle Cuisine" (1985) erhitzt. Mit dem buntscheckigen Spleen von Steve Beresford (von Alterations, New Age Steppers, The Slits, African Headcharge, Playgroup, The Melody Four...), dem abenteuerlustigen Gewirbel von Anton Fier (The Lounge Lizards, Material, Pere Ubu, Kip Hanrahan, The Golden Palominos, Rhys Chatham, Herbie Hancock...), dem bassistischen Esprit von Ferdinand Richard (Etron Fou Le Loublan, Ferdinand, Fred Frith...) und Uwe Schmitt (Niebergall Trio, Sogenanntes Linksradikales Blasorchester, doch dabei auch schon Redakteur bei der FAZ, später der Welt). Reduziert zum Trio mit nur noch Richard und Peter Hollinger (zuvor Inneratem, danach Uludag) als neuem Drummer entstand "Gestalt et Jive" (1986). Neowise (almaslakh.bandcamp.com) versammelt unveröffentlichte Livemitschnitte dieses knackigen Free-Form-Powertrios von 1985 mit allem Holterdipolter von Hollinger, stupendem Bass(gitarren)gekrabbel von Richard, und A23H, der an Reeds wieder sein Feuervogelwesen hervorkehrt, aber auch seine davon untrennbare lyrische Ader zeigt. Die Merkwürdigkeiten ab 'Movement 5' rühren her von Beresford als (noch) viertem Element, der mit Farfisa Organ, Piano, Casio, Melodica und Gitarre den Groove einerseits andickt, andererseits freakish zerlegen hilft, wobei A23H da auch mit Posaune & Trompete seine launigen Seiten hervorkehrt. Gipfelnd mit Beresfords Gesang als Tiger Lilly avant la lettre in kaprioligem Klimbim, das A23H aber wieder in wehmütiges Feeling umschlagen lässt. Doch den Schlusspunkt setzt Beresford mit käseorgliger Exotica nochmal poppig. "Anything goes". So hieß ja dann auch Harths 'Sampladelia-cum-plunderphonic'-Manifest anno 1986. Times have changed / and we've often rewound the clock, fürwahr. Aber Cole Porter hat The world has gone mad today and good's bad today ja schon 1934 konstatiert. Und dennoch passte Just think of those shocks you've got / And those knocks you've got / And those blues you've got / From that news you've got / And those pains you've got / (If any brains you've got) 1985 noch genauso wie es wohl immer passt. A23H got the Blues, als er letzten August von der Explosion im Hafen von Beirut hörte. Und möchte mit der Musik Aufmerksamkeit und Hilfe dorthin lenken. [BA 109 rbd]
TRIO TRABANT A ROMA - Who Shot The Rabbit?
TRIO TRABANT A ROMA Who Shot The Rabbit? (https://alfred23harth.bandcamp.com): Blues jumped a rabbit, run him one solid mile / That rabbit set down, cried like a natural child. Als Blind Lemon Jefferson das reimte, hatte er noch den Großen Krieg gegen den Kaiser im Hinterkopf. Als Phil Minton es 1992 im Berger Kino in Frankfurt schrie und sang, hatten inzwischen andere Zaren abgedankt, doch Maulesel, die sich vor den Karren (einer Reichsidee, der Selbstverdummung, eines Great again) spannen lassen, die finden sich immer. Wem nun der Corona-Blues im Nacken sitzt, denen bietet Alfred 23 Harth diesen ratzeputzen Sorgenkiller und Kummerwürger, der Minton in vogelschrägster Topform zeigt. Harth an Sax, Bassklarinette, Posaune, Farfisa und Casio und die unvergessliche Lindsay Cooper mit Sax, Fagott und Electronics legten ihm keinerlei Fesseln an und brauchten auch nicht groß trillern und oinken, damit sich sein calibanisches Wesen voll entfaltet. Als Trickster von 'The Trick', als aus Mule und Mole gekreuztes Maultier bei 'The Mole', als Duckburg's Most Wanted bei 'The Sheriff'. Minton hatte damals, neben "Off Abbey Road" mit dem Mike Westbrook Orchestra, den "Songs & Variations" mit dem GrubenKlangOrchester oder den "Songs From A Prison Diary" mit Veryan Weston, weiterhin eine enge Verbindung mit Cooper bei "Sahara Dust" und war durch deren "Oh Moscow" und Vladimir Estragon auch schon gut vertraut mit Harth, der seinerseits mit Heinz Sauer als Parcours Bleu a Deux ins Blaue abhob und 1992 das QuasarQuartet initiierte, mit Simon Nabatov (der wiederum Minton mit gefundenem Fressen wie "Nature Morte" und "Readings - Red Cavalry" versorgt hat). Das märzkälberne Trio Trabant hatte 1991 in den negentropischen Territorien von Esslingen den Stoff zu "State Of Volgograd" (FMP) gefunden. In durch Noise zerrüttetem und mutiertem Postjazz und mit Minton als besessenem Medium, als Polyphem, dem die lebendfrisch gefrühstückte Ente aufstößt. Wie ein Geier, der damit seine Jungen atzt, würgt er unsägliche Laute wie halb verdauten Fraß hervor. Ogottogottgttgtt! Unglaublich, was er da krächzt. Auauauuu!! Unbeschreiblich, wie er da heult, jodelt und pfeift, ungeniert derb und selbstvergessen, zu glissendierendem, waberndem Georgel, beklemmtem oder plärrendem Getröte oder auch twangender Maultrommel, als zugleich cholerischer Donald Duck, brabbelnder Zyklop, Bahßetup-Caruso, Pfiffikus. [BA 109 rbd]
ALFRED HARTH'S REVOLVER 23 - Kirschblüten mit verstecktem Sprengstoff (Moloko+, PLUS 106)
Rigobert Dittmann, BA 103
SHANGHAI QUINTET - ShangShan (KSE #379) + NICOLA L. HEIN, ALFRED 23 HARTH - When the Future was Now (KSE #400)
Kendra Steiner Editions (Seoul / San Antonio, TX)
Stone Age Music. So nennt sich, etwas kokett, was im Oktober 2016 im Power Station of Art in Shanghai entstand und nun als ShangShan (KSE #379, CD-R) präsentiert wird. Headliner des SHANGHAI QUINTETs ist Alfred 23 Harth an Reeds & Samples, umringt von Jun-Y Ciao (reeds), MaiMai (guitar), Xu Cheng (electronics & metal percussion) und Tao Yi (drums). MaiMai hat sich mit Muscle Snog und Acid Mothers Temple & The Pink Ladies Blues eingeschrieben, Xu Cheng ist die oberste Instanz der Free-Music- und NOIShanghai- Szene, insbesondere mit Torturing Nurse. Hier ist er, mehr Nurse als Folterknecht, Teil einer neoprimitivistischen Klangmetaphorik. Noch mit Strom und Metall, aber reduziert auf archaische kleine Gesten, klickende Steine, Flötentönchen, bekrabbelte Saiten, pochende, dongende, flickernde Percussion, Game-call-ähnliche Laute, geblasen oder auch per Gitarre. Nach 13 Min. ist der Stein ins Rollen gekommen, der Homo Ludens lässt die Muskeln spielen, Harth hält mit zunehmend hymnischem Tenorsax die kakophile Ursuppe am dampfen. Jun-Y Ciao spielt den Pharoah zu seiner coltranesken, elektroakustisch bezwitscherten und übertrillerten Selflessness. Der große Sprung (31'40") über 'gelbe' Klischees hinweg landet bei einem herzbewegenden Harth'schen Gesang, eingebettet in kollektiv verspieltem Kind- und Tier-Werden, mit lyrisch zartem Ausklang (Part II - 11'01").
Der KSE-Macher Bill Shute zeigt sich überrascht durch NICOLA L. HEIN, ALFRED 23 HARTHs Spielgefährten bei When the Future was Now (KSE #400). Dabei sind die Qualitäten des Düsseldorfer Gitarren-Philosophen kein Geheimnis, durch Norbert Stein Pata Messengers, Rotozaza, als 7000-Eichen-Pflanzer mit Matthias Muche, als Honigpumper mit Mia Zabelka, überhaupt im Kölner Impakt-Zirkel und nicht zuletzt im Ada Rave Trio. Wobei alles, was ich nenne, Lüge bleibt, weil es so viel verschweigt, was dieser kreative Umtriebler auf drei Kontinenten treibt. Anfang Juli 2017 kam er via Taiwan nach Tokyo, wo es neben Konzerten mit A23H (und Joshua Weitzel) auch zu dieser Studiosession kam und zur praktischen Anwendung seines 'Ästhetischen Denkens' in Form von 'Skeptischer Improvisation'. Harth spielte dabei ausschließlich Klarinetten und das Flair des mit Hein gefundenen Zusammenklangs brachte ihm kammerjazzige Parallelen in den 1960/70ern in Erinnerung, den Xmas-Friedensappell von Lennon/Ono ('War is over! If you want it!'), Nam June Paiks Parole 'The Future is Now!'. Allerdings ist der erste Eindruck eher bestürzend, als klarinettistisch brilliante und ruppige Attacke, als würde Hein die Saiten mit Fausthieben und Propeller traktieren. 'Life is a Tape' zügelt das, brütend angedunkelt, mit lyrisch folkloresk unterdrücktem Aufschrei und trillernd aufschrillendem Andrang über rumorendem Grund. '1+9+6+7' bringt dann die ersten balladesken Reminiszenzen, cum grano salis. Bei 'A Society of Screens' schlagen sie wieder rauere Töne an, raspelzungig und grummelnd, klagend, keckernd, dröhnend, wühlend, schillernd. Gefolgt von einem zweiten Quasi-Evergreen, zeitvergessen, ortsentbunden, sogar Hein macht dafür die Finger ganz spitz. Und ganz zart berührt er auch die Saiten für Harths eindringlichen Ruf nach Frieden und Zärtlichkeit, der freilich in kakophone Bedrängnis gerät. Doch 'Wassermannfernsehen kaputtgespielt, - gelacht' hebt erneut wunderbar sanglich an, Hein harft und flickert, Harth nöckt melodienselig und treibt es immer toller. So viel Sinn fanden die beiden, mit geteilter Skepsis im geteilten 'Sinnraum', dass mit Revolver 23 schon die Fortsetzung verabredet ist, mit Harths Imperial-Hoot-Companion Marcel Daemgen und dem bei "Confucius Tarif Reduit" bewährten Jörg Fischer.
Rigo Dittmann, BA 99
LP Kepler-452b / Psych.KG
Nein, umgekehrt: Er ist Ariadne, hingestreckt, schaudernd, dem Hunde gleich sich wälzend. Sie blickt, der Menschen-Qual nicht müde, mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen, ihm/ihr ganz Schmerz, ganz Glück, ganz Labyrinth. Das Labyrinth, den einen Kunst, den andern Kirche, den einen Wahrheit und Tod, den andern Wahrheit und Leben, wird '...hier ab- gebaut und auf Kepler-452b neu errichtet' (so D & A bei 'Die Kirche wird hier abgebaut...'). Meese diktiert 'K.U.N.S.T. - Tanz' doch mal kein ich (Om Mi Nit On)', mit dem Selbstver- ständnis 'Johnny Meese ist der deutscheste Cowboy (Das ist die Zukunft)'. Und A23H macht 'Zisch!' (und hat dazu Clint Eastwood und Charles Bronson als Spaghetti-Cowboys auf der Werbung für einen koreanischen Club als zweites Covermotiv geschossen).
Rigo Dittmann, BA 99
ALFRED 23 HARTH - JOHN BELL Campanula (Moloko+, Plus 95, w/ 48 p booklet)
ALFRED 23 HARTH's Berlin Ensembles (KSE #363)
Alfred 23 Harth: MOONDADA (Moloko Print 23, 218p)
Rigobert Dittmann in Bad Alchemy 93
HARTH / SEIDEL / SPERA / VAN DEN PLAS Malcha (Moloko+, Plus087)
[BA 92 rbd]