Alfred 23 Harth (Frankfurt/Seoul) 

 Die mit Trio Trabant A Roma, Gestalt et Jive und The Punk Jazz Group (BA109) begonnene Öffnung seiner Archive setzt A23H fort mit Memoria Eschatologica (digital) als Hörstück zu Chernobyl und Erinnerung an die letzten Dinge, Agonie und Tod. Realisiert hat er das 1992 als 23-min. Kladderadatsch aus dramatisch-katastrophisch rhythmisierter Sound Art, zerfetztem Chorgesang, homöopathisch eingerührtem Blockflötenorchester und einem ein Havarieprotokoll sprech-singenden Paar mit dem Frankfurt City Blueser, Kunstdandy, Krankenpfleger und 2020 mit "Frittenmoni" sogar Opernkomponisten August Scheufler. Die Überschrift stammt von Alfreds Bruder Dietrich Harth, einem Spezialisten für Mythos und Ritual als Geburtshelfer von Kultur und Kunst, nämlich dessen 'Versuch über Matthias Grünewalds Isenheimer Altar' (in "Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung", 1991). Die Erinnerung an die 'Dialektik von Produktion und Müll' und ihre agonale Ratio wurde gerade erst mit dem 5-Teiler "Chernobyl" (ProSieben) aufgefrischt. Die Affinität von Kunst zu Trash, Müll, Kontamination ist schon länger so ambivalent wie chronisch. Die Ästhetisierung von Scheiße & Dreck ist ja zugleich ein darin Wühlen, das mit dem Ecce Homo-Fingerzeig von Grünewalds Johannes (als Covermotiv!) auf die - in den Krematorien von Auschwitz zum Äußersten getriebene - 'Logik des Systems' hindeutet: 'Müllverbrennung' als Perpetuum mobile eines Teufelskreises und sine qua non von Wohlstand durch Wachstum, von Gedeih durch Verderb. Das zu 'zerrütten' durch Gegenerinnerungen, Ausgrabungen, dem Lesen verwischter Spuren und sogar Wehtun ist doch das, worum es in BA immer schon geht. Und wird hier - in memoriam 10 Jahre Fukushima und 35 Jahre nach dem 26. April 1986 - exemplarisch vor Ohren gezerrt, mit sarkastischen und grotesken Zügen. Brechts „Glotzt nicht so romantisch!“ ist abgewandelt in „Was nützt das schönste Pathos, wenn alles beim Alten bleibt?“ 

Auf Film and theater music compi II (digital) zu hören sind ALFRED HARTHs Soundtracks für ZDF-Dokus: Zu "Luther und die Deutschen" (1983) über den abergläubischen Mönch ohne Sinn für die tiefere Not seines Volkes (H. Ball) und die als mächtiger Hasser riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens (Th. Mann) - mit Brass und attackierendem Getrommel (Uwe Schmitt) in aufbegehrenden Schüben und mit feierlichem Pomp, als innerer Widerstreit mit kecker Auflösung. Zu "Letzte Vernunft" (1986) über den Alten Fritz und den Krieg als die Ultima Ratio des aufgeklärten Flötenspielers oder despotischen Gerippes der Pflichterfüllung und des Sadismus (wieder H. Ball) - flötenfriedlich, reedschmerzlich, mit Trompete zum Kriegstanz bittend, mit Bassklarinette die Wunden leckend und auf dem letzten Zahnfleisch humpelnd. Sowie zu "Geheime Welten" (1990) über dem Secret Intelligence Service, den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 - Kim Philby und die Cambridge Five? George Blake? Bond, der Name ist Bond? Ach, die Kalten Krieger von Maulwurfshausen - in helldunkles Zwielicht, in zwielichtiges Pathos getaucht, honorige Blender, wühlend für das eine oder andere Vaterland, mit gezinkten Keys, verrauschten Electronics, Saxtristesse. Dazu gibt es ebenfalls mit mehrspurig Reeds, Flutes & Electronics gestaltete Exzerpte seiner Theatermusiken für Fernando Arrabals "Der Architekt und der Kaiser von Assyrien" (Schillertheater Berlin, 1988) - saxelegisch auf driftenden und pulsenden Synthiesound gebettet und aufs Bergeversetzen hoffend. Und für das gut gemeinte Sich-Vergreifen am Ungewöhnlichen in "Elysian Park" nach Marlene Streeruwitz (Deutsches Theater Berlin, 1992) - mit dezisionistischem Keysstakkato, verzerrter, überdrehter Tonbandspur, himmlischem Phantomchor, Kartontamtam, immer wieder lyrischem Gebläse, das die Gefühlsskala beharft, wie es Harth so leicht keiner nachmacht, und zuletzt einer abwechselnd rhythmisch aufgewühlten oder unberührten Dröhnwelle. 

https://alfred23harth.bandcamp.com 

[BA 111 rbd]


"Balance Action" Erwähnung in BA 110

 Der Toningenieur & Sounddesigner RAVIL AZIZOV (1962-2018) ist mit Sergey Karsaev & Orkestrion in den goldenen Annalen der New Music from Russia verzeichnet und hat, kleine Welt, mitgewirkt an "Balance Action" (1992), Karsaevs mitreißenden Film über Alfred 23 Harths Eroberung von Moskau, Lenin- & Stalingrad. Acme (FANCY167) wurde 2017 eingespielt im Red Wave Studio, St. Petersburg, wo Azizov sich den Spaß nicht hatte entgehen las­sen, mit The Grand Astoria, dem dortigen Psychedelic-Prog-Eisbrecher, Klarinette zu blasen. Die Session verzahnt schwindelfrei impulsive und echauffiert krähende Klarinet­ten-Altosax-Trios mit Alexey Kruglov und dem Braunschweig-Tallinn-Pendler Vlady By­strov mit jubilierendem Holterdipolter oder versonnener Tagträumerei zu viert mit dem Drummer Oleg Yudanov. Und zuletzt mit obendrein noch zwei Pianisten besonders inva­siv auf Schleichwegen hin zur crescendierenden Eruption. 

[BA 110 rbd]

Alfred 23 Harth: THE PUNKJAZZ GROUP

 

Die kulturelle Standortqualität ist mittlerweile dAS Bobo-Kriterium. Franfurt am Main hat da gepunktet mit dem Museumsufer, der Städelschule, der Schirn, der Buchmesse, dem Jazzfestival, Jazz im Palmengarten, dem Ballett einst mit Forsyth und Fabre, dem Theater am Turm (bis 2004) mit Stücken von Heiner Goebbels, als Technohotspot mit Sven Väth, Force Inc. Doch als Gunst für Frankfurt hat Alfred Harth sehr schön die treffliche Lage vermerkt mit: im Osten die GI-Clubs mit Jazz, R&B und den Monks, im Süden die Darmstädter Ferienkurse, im Westen die Fluxusbewegung in Wiesbaden, im Norden die documenta in Kassel. Neben dem Duo Goebbels/Harth (1975-1988) machte A23H da mittendrin noch allerhand eigenen Wirbel, meist mit dem zuletzt noch in Gestalt Et Jive involvierten Drummer Uwe Schmitt an der Seite: als Medial Move, im Buschi Niebergall Trio, bei Abrazzo Oper und dem Nontett Reklame der Wirklichkeit.

Und mittendrin - 1979 -, mit noch Christoph Anders - vox, Nicole van den Plas (von E.M.T.) - farfisa organ, Frank Diedrich - bass git. und Peter Kuhlmann - git. in THE PUNKJAZZ GROUP. Für Harth und Anders war das ein Durchlauferhitzer hin zu Cassiber, für Kuhlmann, da noch keine 19, die musikalische Entjungferung. Nicht dran zu denken, dass aus ihm jenseits des Jazzrocks mit Romantic Warrior der ambient-pluriversale FAX-Macher Pete Namlook werden würde. Aber das ist eine andere Geschichte und eine traurige dazu, denn er ist 2012 mit noch nicht mal 52 an einem Herzinfarkt gestorben. Wir reden hier aber von jenen Zeiten, in denen sich Frankfurt statt auf Zoo, Flughafen, Mainhattan oder Mille Plateaux auf Pflasterstrand, Fronttheater und Batschkapp, kurz: auf Sponti-Bewegung reimte und das Sogenannte Links- radikale Blasorchester mit gelben Birnen schmiss.

1979 war nach dem Revoluzzer-, Putztruppler- und Indianer-Sein das Punk-Werden angesagt - "die intelligenteren Ausdrucksweisen von Punk" (also 'Studentenmusik') [faktisch klang's in Ffm wie auf dem Kassetten-Label Walters Lust - Bildstörung (mit Peter Prochir) oder Toto Lotto (mit Anders)...; Eric Hysteric spuckte als Möchtegern-Pop-Analphabet nach Vomit Visions auch mit The Esoterics auf "Späthippies und Möchtegern-Intellektuelle", die 'echten' Punks moschten zu Middle Class Fantasies und Böhse Onkelz im JUZ Bockenheim]. Politik in erster Person, lautete die neue Sponti-Parole. Aber wie geht das, halstief im 'Sumpf', durch die Kommerzmangel gedreht und nix als herbstgraue Wolken überm Scheitel? Ziemlich anders als der Tunix-Sound (Missus Beastly, Embryo, Teller Bunte Knete) und der Trikont-'Stunkfolk'. Und statt post-Stammheim-depressiv mit einem trotzigen Y Not (alfred23harth.bandcamp.com/album/y-not). Mit der Ermutigung wohl durch No Wave und die Funk-Punk-Contorsions von James Chance, mit deklamatorischem Gesang auf Englisch, aber auch schnittig abgezirkeltem Tenorsaxzickzack von Harth & Anders zusammen, knackig rhythmisiert, mit knurrigem Bass, gitarristischen Splitterchen (aber auch bluesrockigen Einwürfen). Als 'Kollision der Genres' und "erkennbare melodische und rhythmische Strukturen" wurde das dann bei Cassiber programmatisch. Anders' Verve, teils spontan artikuliert, streift öfters ans Schreien, ebenso wenn er altissimo fiept zu Harths Bassklarinette und Vokalisation von van den Plas. Simple Muster, rock'n'rollige Anklänge und Seehundcluster oder Zweifingerfarfisa im spöttischen Widerspruch zu Harths Sopranotirili proben, im groovigen Motion-Emotion-Taumel die Nestflucht vom Jazz in ein Mainhattan-Vorgefühl. I was feeling sick / I was losing my mind. / Gimmegimmegimme a shock-treatment / I get happyhappyhappy all the time. Definitiv 'punkig' sind die immer wieder abreißenden Kassettenfetzen aus dem Bunker Bornheim. Das lässt einen flippern von 'Chevrolet' zu Chor- 'Gesang', zum wilden Jam mit Saxfeuer, 10-Finger-Orgel, Psychgitarre und flehend geschrienem So alone So alone (mit zuckenden Störgeräuschen als krassem V-Effekt).

 [BA 109 rbd]

GESTALT ET JIVE - Neowise (almaslakh.bandcamp.com)

 


In den Nachwehen heroischer Phasen ergeben sich oft die ergiebigsten Möglichkeiten. So bietet die Postmoderne als Humpty-Dumpty-Stadium der Moderne die Freiheit, alles Vor­gefallene aposteriorisch aufzubereiten. Das Post- darf dabei nicht schrecken, Post-Punk (und No Wave) z. B. lieferte(n), synkretistisch, sophisticated, der Dynamo schräg gestellt zum Wind der Dinge, definitiv den besseren Punk - denkt an This Heat, The Fall, Wire, Essential Logic, The Pop Group, PIL, D.A.F., The Raincoats, Ludus, Joy Division, The Homo­sexuals, Family Fodder, The Deep Freeze Mice, Laughing Clowns, The Work, Rip Rig + Panic, die Art Bears, The Ex, Massacre... A23H nennt "Es herrscht Uhu im Land“ (1981) als weichenstellend für die Idee, Creative Jazz, Instant Composing, Art Rock und Post-Punk alchemistisch aufzumischen. Mit Cassiber [1982-85], Duck and Cover [1983/84], und 1984-88 mit GESTALT ET JIVE. In Frankfurt wurden da in abgeklärter Könnerschaft die Töpfe für "Nouvelle Cuisine" (1985) erhitzt. Mit dem buntscheckigen Spleen von Steve Beresford (von Alterations, New Age Steppers, The Slits, African Headcharge, Playgroup, The Melody Four...), dem abenteuerlustigen Gewirbel von Anton Fier (The Lounge Lizards, Material, Pere Ubu, Kip Hanrahan, The Golden Palominos, Rhys Chatham, Herbie Hancock...), dem bassistischen Esprit von Ferdinand Richard (Etron Fou Le Loublan, Ferdinand, Fred Frith...) und Uwe Schmitt (Niebergall Trio, Sogenanntes Linksradikales Blasorchester, doch dabei auch schon Redakteur bei der FAZ, später der Welt). Reduziert zum Trio mit nur noch Richard und Peter Hollinger (zuvor Inneratem, danach Uludag) als neuem Drummer entstand "Gestalt et Jive" (1986). Neowise (almaslakh.bandcamp.com) versammelt unver­öffentlichte Livemitschnitte dieses knackigen Free-Form-Powertrios von 1985 mit allem Holterdipolter von Hollinger, stupendem Bass(gitarren)gekrabbel von Richard, und A23H, der an Reeds wieder sein Feuervogelwesen hervorkehrt, aber auch seine davon un­trenn­bare lyrische Ader zeigt. Die Merkwürdigkeiten ab 'Movement 5' rühren her von Beresford als (noch) viertem Element, der mit Farfisa Organ, Piano, Casio, Melodica und Gitarre den Groove einerseits andickt, andererseits freakish zerlegen hilft, wobei A23H da auch mit Posaune & Trompete seine launigen Seiten hervorkehrt. Gipfelnd mit Beresfords Gesang als Tiger Lilly avant la lettre in kaprioligem Klimbim, das A23H aber wieder in wehmütiges Feeling umschlagen lässt. Doch den Schlusspunkt setzt Beresford mit käseorgliger Exotica nochmal poppig. "Anything goes". So hieß ja dann auch Harths 'Sampladelia-cum-plunder­phonic'-Manifest anno 1986. Times have changed / and we've often rewound the clock, für­wahr. Aber Cole Porter hat The world has gone mad today and good's bad today ja schon 1934 konstatiert. Und dennoch passte Just think of those shocks you've got / And those knocks you've got / And those blues you've got / From that news you've got / And those pains you've got / (If any brains you've got) 1985 noch genauso wie es wohl immer passt. A23H got the Blues, als er letzten August von der Explosion im Hafen von Beirut hörte. Und möchte mit der Musik Aufmerksamkeit und Hilfe dorthin lenken. [BA 109 rbd]

TRIO TRABANT A ROMA - Who Shot The Rabbit?

 TRIO TRABANT A ROMA Who Shot The Rabbit? (https://alfred23harth.bandcamp.com): Blues jumped a rabbit, run him one solid mile / That rabbit set down, cried like a natural child. Als Blind Lemon Jefferson das reimte, hatte er noch den Großen Krieg gegen den Kaiser im Hinterkopf. Als Phil Minton es 1992 im Berger Kino in Frankfurt schrie und sang, hatten inzwischen andere Zaren abgedankt, doch Maulesel, die sich vor den Karren (einer Reichsidee, der Selbstverdummung, eines Great again) spannen lassen, die finden sich immer. Wem nun der Corona-Blues im Nacken sitzt, denen bietet Alfred 23 Harth diesen ratzeputzen Sorgenkiller und Kummerwürger, der Minton in vogelschrägster Topform zeigt. Harth an Sax, Bassklarinette, Posaune, Farfisa und Casio und die unvergessliche Lindsay Cooper mit Sax, Fagott und Electronics legten ihm keinerlei Fesseln an und brauchten auch nicht groß trillern und oinken, damit sich sein calibanisches Wesen voll entfaltet. Als Trickster von 'The Trick', als aus Mule und Mole gekreuztes Maultier bei 'The Mole', als Duckburg's Most Wanted bei 'The Sheriff'. Minton hatte damals, neben "Off Abbey Road" mit dem Mike Westbrook Orchestra, den "Songs & Variations" mit dem GrubenKlangOrchester oder den "Songs From A Prison Diary" mit Veryan Weston, weiterhin eine enge Verbindung mit Cooper bei "Sahara Dust" und war durch deren "Oh Moscow" und Vladimir Estragon auch schon gut vertraut mit Harth, der seinerseits mit Heinz Sauer als Parcours Bleu a Deux ins Blaue abhob und 1992 das QuasarQuartet initiierte, mit Simon Nabatov (der wiederum Minton mit gefundenem Fressen wie "Nature Morte" und "Readings - Red Cavalry" versorgt hat). Das märzkälberne Trio Trabant hatte 1991 in den negentropischen Territorien von Esslingen den Stoff zu "State Of Volgograd" (FMP) gefunden. In durch Noise zerrüttetem und mutiertem Postjazz und mit Minton als besessenem Medium, als Polyphem, dem die lebendfrisch gefrühstückte Ente aufstößt. Wie ein Geier, der damit seine Jungen atzt, würgt er unsägliche Laute wie halb verdauten Fraß hervor. Ogottogottgttgtt! Unglaublich, was er da krächzt. Auauauuu!! Unbeschreiblich, wie er da heult, jodelt und pfeift, ungeniert derb und selbstvergessen, zu glissendierendem, waberndem Georgel, beklemmtem oder plärrendem Getröte oder auch twangender Maultrommel, als zugleich cholerischer Donald Duck, brabbelnder Zyklop, Bahßetup-Caruso, Pfiffikus.  [BA 109 rbd]