Die
vor einem Jahr (BA76) angekündigten Wahlzettel sind eingetroffen, in Gestalt
der 30th Anniversary Cassiber Box (ReR Megacorp, 6 x CD + DVD, ReR CBOX). Eins
ist dabei sicher: Die Wahl ist nicht leichter geworden, nicht in den letzten 12
Monaten, nicht in den vergan- genen 30
Jahren. Welche Wahl? Die zwischen Gelächter und schmerzlicher Scham, um es mit
Nietzsche zu sagen. Als Wahl-O-Mat liegen vor: Die von Christoph Anders, Chris
Cutler, Heiner Goebbels und – bis 1984 – Alfred Harth eingespielten vier Studioalben Man, Or Monkey (1982),
Beauty & The Beast (1984), Perfect Worlds (1986) und A Face We All Know
(1990); als The Way It Was „Live Recordings and Studio Sketches 1985-92“; als
Collaborations die Projekte Duck And Cover und Cassix; und auf Elvis Has Left
The Building Konzertmitschnitte vom 18. Deutschen Jazz Festival, Frankfurt/M.,
Oktober 1982, aus Sao Paulo, Juli 1984, und in der Akademie der Künste der DDR
1989. Für BA war CASSIBER eine der
prägenden
Erfahrungen der 80er Jahre. Die guten Gründe dafür sind hier nachhörbar: Als –
ich wiederhol mich da gern – stupende Mixtur aus Improvisation und Songs, aus
Post- punk-Verve und Art-School-Knowhow. Der von Harth
und Goebbels im Duo seit 1975 schon entwickelte Bach-Eisler/Brecht-Thrill,
verstärkt in zugleich expressiver und neusachlicher Morphologie mit Cutlers
Drumming und dem Krach und den theatralischen Deklamationen von Anders, einem
der grandiosen Nicht-Sänger jener Jahre. Cutlers erregter
Kampf-mit-Windmühlen-Stil, zuletzt durch die Art-Bears-Trilogie forciert, hatte
sich kurz vor der Einspielung des Cassiber-Debuts (August 1982) auf der Tour
mit The Work in Japan noch punkig verschärft. Seine unorthodoxen Army in
banners-Märsche korrespondierten perfekt mit der Mobilmachung des Sogenannten
Linksradikalen Blasorchesters (1976-81), das Harth & Goebbels im Geist von
Charly Haden‘s Liberation Music Orchestra initiiert hatten als egalitäre
Plattform für Sponti-Kreativität, kritisches Denken und das Ghostbusting von
Verblendungszusammenhängen.
Ein weiterer Schleifstein für CASSIBERs Ästhetik war die von punkiger
Simplizität und der Stimme von Anders bestimmte Gruppe, die Harth 1979 mit Uwe
Schmitt (der mit Goebbels in der Jazzrockformation Rauhreif getrommelt hatte)
und Nicole van den Plas (Harths Partnerin in E.M.T.) formiert hatte. Da, in
Harths Projekt Es Herrscht Uhu Im Land (mit Anders, Goebbels, Rolf Riehm,
1980), in den beiden mittlerweile elektrifizierten 1981er Goebbels/Harth-Alben
Bertolt Brecht: Zeit wird knapp (mit Dagmar Krause und dem Schauspieler Ernst
Stötzner) und Der Durchdrungene Mensch / Indianer für Morgen, und in der
Inszenierung der von Goebbels, Harth & Riehm komponierten Abrazzo Oper (mit
dem Schauspieler Peter Franke) 1981 in Recklinghausen fügten sich die Bausteine
für CASSIBER zusammen: Not only Punk & Jazz, but Dada & Free Music,
also New Music & Literature (O-Ton Harth).
Modernistisches
Montageprinzip und postmodernes Crossover setzten L. A. Fiedlers
Parole
„Cross the border - close the gap“ in die Tat um. CASSIBER vereinnahmte Bach,
Brecht, Eisler, Hölderlin, Jandl, Pynchon, Schönberg, Schwitters als
‘Volksvermögen’ zu Django und Trinità. Für ihre ‚Ästhetik des Widerstands‘
taugte griechische Mythologie ebenso wie ‚Sag mir wo die Blumen sind‘ und ‚At
Last I Am Free‘. B. A. Zimmermann, Henry Cow und Sven-Ake Johanssons
freigeistige Dorfmusik kreuzten sich als ‚vom gleichen Stamm‘. Die „Polyphonie
der Mittel“ (Goebbels) und die Power der multiinstrumentalen, sich aus dem Lärm
von Synthesizern, Tapes, E-Gitarre, wildem Gebläse und perkussiver Wühlarbeit
ballenden Performanz machte, unter dem Damoklesschwert der Pershings,
Kolonisation als Fluch, Ausbeutungsverhältnisse als Dauermalaise und
Umweltverschmutzung als Menetekel hörbar. Anders‘ alarmierter, deklamatorischer
Ton, ähnlich dem von Peter Hein bei Mittagspause und dem fast zeitgleichen von
Sea Wanton bei Non Toxique Lost, ging unmittelbar unter die Schädeldecke.
Goebbels musiktheatralisches Oeuvre von Verkommenes Ufer (1984) über Der Mann
im Fahrstuhl (1987) und Römische Hunde (1991) bis Ou bien le débarquement
désastreux (1993) etc. fußt auf diesen Fundamenten und insbesondere den
‚menschlichen‘ Stimmen.
CASSIBER
kämpfte dabei nicht allein, Stormy Six aka Macchina Maccheronica in Italien,
Etron Fou Leloublan in Frankreich, Aksak Maboul in Belgien, Alterations in
England, Skeleton Crew aus New York bildeten ein Rhizom, das über den
R.I.O.-Gedanken hinaus sich in Parallelaktionen verbündete, aber oft genug auch
in konzertierten. Cutler mischte bei Aksak Maboul mit, Harth formierte nach dem
Ausstieg bei Cassiber mit Steve Beresford von Alterations und Ferdinand Richard
von Etron Fou Gestalt Et Jive. Zuvor jedoch vertieften Harth & Co. die 1980
gemachte Bekanntschaft mit Stormy Six 1983 im Portmanteau-Sextett CASSIX
(Cutler, Goebbels, Harth + Franco Fabbri, Umberto Fiori, Pino Martini). Mit den
sieben Stücken, die damals gemeinsam in Montepulciano fabriziert und 1986 auf Re
Records Quarterly Volume 1 No. 3 präsentiert
wurden, bringt Collaborations ein Wiederhören. Fioris Stimme gibt da einen
folkrockigen, bei ‚Tempo Di Pace, Bari‘ durch Harths
einmal
mehr herzensbrecherisches Saxophon auch ganz melancholischen Touch. Wildes
Grillengezirp
hält dagegen, ebenso ‚The Stanislawsky Method‘ als reine Klangkollage mit Stimm-Sample.
‚Copy Machine‘ komprimiert die Stormy-Six-Essenzen auf 1:52, Fabbris Gitarre
und das Pathos des Gesangs erstarren in ihrer Bewegung wie Berninis Apoll und
Daphne. ‚Cripta‘ klingt wie ein Cassiber-Remix.
Mit
DUCK AND COVER hatte Re
Records Quarterly Volume 1 No. 2 schon 1985 ein weiteres Cassiber-Spin-off
verewigt. Diese Supergroup, bestehend aus Cutler, Goebbels, Harth, Fred Frith
& Tom Cora (Skeleton Crew), Dagmar Krause und dem Posaunisten George Lewis,
der Mitte der 80er zwischen Braxton und Zorn ständig auch europäische Avantluft
schnappte, entstand auf Anregung von Burkhard Hennen für das Moers Festival
1983.
Collaborations
rekapituliert ihr am 16.2.1984 beim Festival des politischen Liedes in
Ost-berlin dargebotenes ‚Berlin Programme‘, eine freie Suite aus
Art-Bears-Songs und Indianer für Morgen-Stoff. ‚Kein Kriegsspielzeug für
Jonathan‘ und ‚Dunkle Wolk‘ verraten noch den Kontext des Wettrüstens und des
Widerstands dagegen. Dass Günther Anders (auf den Goebbels Bezug nahm) eine
Effektivität des Protestes einforderte und Pete Seeger bis zuletzt an die
Wirksamkeit engagierter Symboliken glaubte, erscheint gleichermaßen illusionär.
Was nicht heißt, dass es nicht notwendig ist. „Rats and monkeys crowd the city
as it crumbles into ruin“ konnte man 1984 als Prognose für dies und das hören.
Aber „Walls are loosening – true, but gates are blocked“? ‘The Song of
Investment Capital Overseas’ als zynische Globalisierungshymne, ‘Freedom’ als
Neoliberalisierungslektion und Brechts
Emigranten-Blues
‘Und ich werde nicht mehr sehen’ sind inzwischen sogar noch wahrer
geworden.
Wenn, laut Cutler, das Bemühen darin bestand, die Zwickmühle zwischen
Kräften
der Ablenkung (distracting) und der Austrocknung (draining) aufzuzeigen, dann
haben Duck And Cover und Cassiber das geleistet. Und mehr.
Um
das legendäre Jahr 1984 herum verblassen Begriffe wie “Utopie”, am Horizont
tau-
chen
“das Ende der Geschichte” auf und Hyperrealitäten, auch Rhizome… die
alternativen Spontiwärmepole der 70er gehen trotz immanentem Protestgeist und
alledem in den 80ern eher baden, hinterlassen coolere Asche. Field recordings
ziehen in die Musik des Duo Goebbels/Harth mit ein, Hightech & Elektronik
breiten sich aus … Postmodernität & Cyber-world… von Adorno zu Baudrillard
(O-Ton Harth). Harth präsentierte 1985 in Moers seine turntablistische Collage
Anything Goes. Als für ihn mit CASSIBER schon nichts mehr ging, wenn auch nicht
aus musikalischen Gründen. Und ich denke auch nicht, dass ihn die Lyrics von
Cutler störten. ‚Dust and Ashes‘ (auf Perfect Worlds) kaute ja ebenso am neuen
Zeitgeschmack wie ‚Die Reise nach Aschenfeld‘ auf dem letzten
Goebbels-Harth-Studioalbum Frankfurt-Peking (1984). Das wurde mir damals so
auch gesagt, dass ich leider zu spät gekommen sei, Camberwell Now wäre nur ein
Schatten von This Heat, News From Babel nur ein Hauch von Henry Cow, die 80er
nur die Nachglut der späten 70er. Für mich war aber alles neu und ich blieb für
Jahre enthusiasmiert. Auch beim Wiederhören von CASSIBER live Ende 1988. Das
Ende meiner Illusionen (nicht aller) brachten erst die 1990er.
Aber
‚Ach heile mich‘, ‚I Tried to Reach You‘, ‚A Screaming Comes Across The Sky’
und das „Wie ein Stück Vieh!“ aus dem ‚Prisoner Chorus’, behielt das nicht
durchwegs seine Gültigkeit? Gegen den Verrat des Geistes an die neuen Medien,
die neuen Märkte, gegen (aufgeklärten) Zynismus als Coolness und gegen
Affirmation als höchster Form der Dissidenz. Deleuze, deleuzer, am deleuzesten.
Statt oben oder unten, hüben oder drüben, nur noch Das hier. Alternativlos.
„Arriba!“
verhallte ungehört, um „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ breitete sich Stille
aus. Doch aus der Wüste des Realen tauchten immer wieder Gespenster auf (wobei
Hauntology das Gegenteil von Retro meint): Archetypen wie Hamlets Vater, Medea,
der Ewige Jude. Bei Arbeit, Broken.Heart.Collector, Ground Zero, Das Kapital,
La STPO, Claudio Milano, 7k Oaks, Sleepytime Gorilla Museum, The Ex… fand ich
Meme von CASSIBER wieder. Das ganz Spezifische daran offenbart sich bei Elvis
Has Left The Building. Noch einmal zum besseren Verständnis: We met ... with
the idea to improvise 'completed
pieces'.
In other words, not to 'improvise' in the familiar, abstract, 'Free
Jazz'/Darmstadt' mode, but rather to attempt spontaneously to produce already
structured and arranged material. The double LP Man or Monkey was the result.
And that could very well have been the end of it, except that the LP was so
well received in Germany it led almost immediately to an invitation to perform
at the 1982 Frankfurt Jazz Festival. We considered how to approach this, and
decided in part to invent new pieces in real time, as we had in the studio, and
in part to 'remember' and reproduce some of the pieces from the LP, without
learning or rehearsing them. This became our general approach to concerts for
the next three years, until Alfred left in 1986 (O-Ton Cutler). Dieses
“spontaneously” und “in real time” vermittelt sich sinnfällig in Frankfurt und
bei den folgenden Konzerten als Erregung, wie sie schon Goebbels bei seinem
Cut-up von der Protestfront ‚Berlin Q-Damm 12.4.81‘ inszeniert hatte: „Ich
schieße, ich mach keinen Spaß! Ey, haut mich hier raus!“ Angeheizt wurde das
CASSIBER-Fieber von Beauty/Beast-Man/Monkey-Spannungen. Und von der
Courage,
keine fertigen Stücke vorzuführen, sondern sie ‚from scratch‘ zu skizzieren,
als Torsi, die erst im Kopf ganz Gestalt annehmen. Cutler fährt unter seinem
leuchtenden ‚Heiligenschein‘ wirbelnd fast aus der Haut. Anders hämmert dazu
auf Eisenbrocken und Blech wie die Einstürzenden Neubauten. Bei ‚Our Colorful
Country‘ bläst Harth mit Piccolotrompete zum Angriff, bei ‚Don’t Blame Me‘ mit
Posaune. Die Schärfe der Attacken hebt das Pathos auf in Nervenkitzel, die
durch das Auge als totale Erinnerung zünden. Cutlers unorthodoxer Drive und
Krawall sind so denkwürdig wie Harths ureigene Verschaltung von Feuer und
Feeling. Sein Ausstieg war ähnlich gravierend wie der von David Jackson bei Van
der Graaf Generator. Wobei ja beide Trios hörenswert blieben. CASSIBER
jedenfalls vermittelt(e) mit "delirious frenetic energy" (Donal
McGraith) eine "Dringlichkeit" (Karl Bruckmaier), dass man sofort auf
die Straße stürmen möchte, um sich den Status quo nicht länger bieten zu
lassen. Diese Musik gehört ganz einfach zum Überlebensset wie der Gegenstand, den
man Schleifstein nennt.
Rigobert Dittmann, BA80
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