Alfred 23 Harth

Indem er dem Päckchen aus Fernost eine Kopie der Recout-CD-R atmosfähre fast gut (Recout 0001) bei­fügte, die seine 1991 zusammen mit Peter Fey als SETI IM CLUB unternommene Ex-DDR-Tour dokumentiert, schickt A23H mich zurück in die Widersprüche jener Zeit: Den Katzenjammer am alternativlosen Ende der Geschichte, das Abwickeln von Ballast und von Idealen, den langen Marsch ins Prekariat. Wobei die Abgewickel­ten, die im Stau Marschierenden, sich immer weniger und immer schwieriger konfrontieren ließen mit avan­cierter Sonic Fiction, die in ihrer Suche nach Intelligenz und dem Wunderbaren abhob mit Warpantrieb, mit P. D. Ouspensky, Jürgen Ploog, W. S. Burroughs und Wilhelm Reich an Bord und voller Vertrauen in die Selbstheil­kräfte organischer Konstruktionen. Damals meinte 'Osten' gerade mal Leipzig (und selbst das konnten Harth & Fey nicht rechtzeitig erreichen).

Harth kam zwar ganz schön rum, mit dem Trio Trabant a Roma oder dem QuasarQuartet, Zentrum seiner Aktivitäten in den 1990ern war jedoch Frankfurt/M., wo er 1993 zusam­men mit Christoph Korn das Forum Improvisierender Musiker alias Frankfurts Indetermi­nables Musiqwesen (FIM) initiierte, das man sich in Analogie zu Zürichs Werkstatt für im­provisierte Musik (WIM) vorstellen darf. Als Schallfenster kam das CD-R-Label RECOUT dazu, das einige der kollektiven Leistungen der FIMler dokumentierte. So etwa als Par­cour bleu a deux: Die kainitische Stadt über Abels Gebeinen (Recout 0003) Harths Nord­amerikatrip 1992 mit Heinz Sauer, mit dem er anlässlich der Kunstausstellung "2324 Fu" im Dominikanerkloster FFM zusammengefunden hatte. Im STERN4TET spielte Harth mit Daniel Franke, Micha Daniels und dem Drummer Bertram Ritter (Recout 0002 & Rent Art Quest, Recout 0013). Als IMPERIAL HOT tat er sich mit Korn und Ritter zusammen, einge­fangen als Hot Deals (Recout 0005). Mit Harry Petersen, Martin Lejeune & Bülent Ates formierte er HALE PEAT resp. PALE HEAT, während die Geschichte mit Korn weiterging in IMPERIAL HOOT, einem durch Sounds von Marcel Daemgen & Günter Bozem an den Drums vervollständigten 4tet, dokumentiert auf Trialectrique (Recout 0008), Tribology (Recout 0009, 1998) und secrets of developement (Blue Noises, 1999). Harths Fin de Siècle wur­de schon in BA 60 gestreift, die Recout Com. Ah My Stick frischt aber noch einmal Erin­nerungen an das Geleistete auf. Mit Hörbeispielen der genannten Projekte plus Exzerpten von Harths Pollock (Orkestrion Schallfolien, 1997), von seinem Solo Contury Cheiron, von modern post (Recout 0006, 1997) mit dem Duo mit Wolfgang Stryi (1957 - 2005), der 23 Jahre lang (Kontra)-Bassklarinette im Ensemble Modern blies, und mit der 'Cassini-Suite' aus Alfred Harth's Die Flyby No Net plays CASSINI (Recout 0010, 1998). Was da ästhe­tisch der Post-Fusion nahe stand, durch Korns Gitarre auf gesalzene Weise, peilte - wie die Stichwörter Stern, extraterrestrische Intelligenz und Cassini-[Huygens] (ein 1997 gestarteter Kiebitz zu Saturn und Titan) andeuten - zugleich elektronische Cyberspaces an, allerdings ohne erkennbare Schnittmenge mit den zeitgleichen, nämlich ebenfalls ab 1993 in Frankfurt praktizierten elektronischen Deterritorialisierungen von Mille Plateaux. Harths 'Vitriol' (auf Contury Cheiron) - alchemistisch entschlüsselbar als "Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem” - ist eine Zwischenstufe hin zu seinen künftigen Laubhuetten-Mixturen, noch mit einem hohen Anteil an Free Jazz. Cheiron als Pate zu wählen, den Kentauren, der seine Unsterblichkeit an Prometheus weitergab, ver­rät das bewusste Faible für Mischformen und nahm bei Imperial Hot/Hoot die chimären­hafte Gestalt von 'Jazzcore' an. Korn & Daemgen setzten ihre gute Arbeit fort als ARBEIT, eine Dekade später tauchte Korn dann ziemlich unvermutet bei edition Wandelweiser auf, mit dem stillen Lobgesang Simeon (2013).


Anno 2000 wechselte Harth nach New York, hielt es dort aber nicht lang aus.
Ab 2001 spielte sich das Leben von Secret Agent 23 ganz im Fernen Osten ab - Seoul wurde zum neuen Lebensmittelpunkt und Ausgangspunkt ganz neuer Kontakte. Ein intensiver Input entwickelte sich zu 'Bulgasari', einer nach einem nordkoreanischen Monstertrashfilm getauften Initiative des Gitarristen Yukie Sato, der erst heuer wieder mit Harth zugange war, als sie auf der Japan-Tour von You Me & Us an der Seite von Chris Cutler & Yumi Hara für den erkrankten Daevid Allen einsprangen. Die 'Bulgasari'-Connection ist dokumentiert auf der Bulgasari Special Compilation, aufBulgasari 2-4 featuring Ensemble Naeil und auf Bulgasari 2003 0-7. Darauf zu hören sind ebenfalls das Ensemble Naeil mit Harth, Choi Sun Bae, Kim Gyu Hyoung an der Puk-Trommel und Kim Eun-Young an der zweisaitigen Haegeum mit west-östlicher NowJazz-Bizarrerie. Bae spielt zudem solo bei 'No War' einen Chor kaskadierender Trompeten. Dazu kommen das Seoul Frequency Quartet, das zur Hälfte aus dem Astronoise-Duo von Choi Joonyong & Hong Chulki bestand, mit einer Version von Steve Reichs Phasen­kanon 'Come Out', Rush Film, ein hochgradig elektroakustisches Quartett mit Harth und Sato Yukie, und 3C3, ein Bläser-Trio mit Harth, Bae und Joe Foster, einem Kalifornier, der ebenfalls in Seoul ein neues Zuhause gefunden hat, als rumorendem Spaßmacher, der auch im Duo mit Harth die Seouler Girls zum Kichern bringt. Auf 'Bulgasari' folgte 2005 das von Ryu Hankil organisierte 'Relay' als multimediale Spielplattform mit Manual als angegliedertem Label. Daraus ging 2008 dann Jin Sangtaes 'Dotolim' hervor, wiederum mit einer Reihe von mittlerweile 60 Konzerten in intimem Rahmen und seit 2012 sogar mit einem dotolimpic-Festival mit internationalen Attraktionen. Wie anschlussfähig die Seouler Szene längst ist, hatte sich schon 2006 gezeigt beim Elektroturnier von Hong Chulki, Choi Joonyong, Ryu Hankil, Jin Sangtae und Sato Yukie mit den Schweizer Signal To Noise-Machern Korber, Möslang, Müller & Kahn (signal to noise vol. 6, FOR4EARS). Mein Fazit dazu schon in BA 59: Der Homo ludens streut sich als Sand ins Getriebe des puren Konsumismus. Die Zeiten, auf den Fernen Osten noch irgendeinen Exotismus zu projezieren, sind - Dudelsack hin, Haegeum her - vorbei. Die elektroakustische Internationale zeigt das eigentliche Potential der Globalisierung und des elektronischen Furors auf. Aber bei jedem Ton, den sie piepst, wispert das Echo: "Alibaba ... aba ... aba ...".

Die China Collection (Kendra Steiner Editions, KSE #275, CD-R) bringt uns ent­sprechend in die Gegenwart der Jahre 2011 - 14. A23H tändelt da mit der Buddha-Maschine, wobei der motorisch und bruitistisch furiose Mensch-Maschinen-Loop 'Invocation Orhk', sein ursprünglicher Beitrag zur Lona-Records-MP3-Kompila­tion Tribute to FM3: Buddha Machine4 Vol.2, hier in einer turntablistisch an­ge­reicherten Version erklingt. Umrahmt von den kurzen Samplingkompositionen und Brainstormings 'Simulator 3' (für Streichquartett), 'Stop Finning' und 'Fin Noir' hört man A23H 'Live in Shanghai' beim krachigen Knattern und Jaulen mit dem Shanghai Quintet. Kaum zu glauben, dass da Bassklarinette, Taschen­trompete, Altosax, Klarinette, Gitarre und Schlagzeug im Einsatz sind. 'Shark Without Fin' entstand zusammen mit Alok Leung, Sherman Ho & Sin:Ned aus Hongkong und ist nicht weniger xenoglott und cybertechnoid. Harth mischt sich da alles andere als alteuropäisch ein, das Finale gestaltet sich dennoch ent­schleunigt und schwebend. Sein 'Peking Opera Remix III' mischt aus dem Goeb­bels-Harth-Original und der Ground-Zero-Version ein plunder­pho­nisches Update und quintessentielles Alles-in-allem aus fernöstlich turbulentem Slapstick und Harthscher Vielschichtigkeit. Mehr Kladderadatsch, mehr Augenhöhe mit der Aktualität, mehr Vorgriff auf Künftiges geht kaum. Tomorrow is no question. Die Gegenwart dauert drei Sekunden.

[BA 83 rbd]

HARTH - KOWALD Region 2 for seconds (Laubhuette Production, LPM44)



Sich Alfred 23 Harths Fotostream auf flickr anzuschauen, ist zum schwindlig werden. Die Namen seiner künstlerischen Partner würden allein schon ein dickes Telefonbuch füllen. In seine späte Frankfurter Phase, als er etwa mit Imperial Hot / Hoot oder Uwe Oberg musizierte und bei Recout und Blue Noises publizierte, fällt auch das Zusammenspiel mit Peter Kowald. Das führte die beiden 1999 gemeinsam mit Xu Fengxia sogar nach Moskau, aber zeitigte zuvor diese Studiosession, bei der Harth sich multiinstrumental voll entfaltete, um Kowalds brummelnde, hummelnde Bassstriche zu umschwärmen. Dessen Spannweite, von knorrigem Sägen über federndes Plonken bis zu cellofeinem Wimmern, kommt er mit seinem Vollspektrum von Kontrabassklarinette über Alt- und Tenorsax bis zu Flöte mit offenen Armen entgegen. Mit einer dem Klangspektrum entsprechenden Gefühlsskala von klezmeresker Wehmut bis zu komischen Lauten, die er einer Trompete oder Maultrommel entlockt oder durch ein bloßes Mundstück furzelt, während Kowald fiedelt und flirrt, als wäre sein Kontrabass eine der Schwerkraft spottende Ballerina. Wie Harth da mit Saxophonspaltklängen und -trillern oder gepressten Trompetenschmierern Luftschlangen in schillernden Farben kalligraphiert, wie er mit Lockpfeifen Kobolde anlockt und sie mit Pfiffen zu dressieren versucht, wie er, vom Bass umjault, krimskramst und kinderbelustigend ulkt, lässt sich nur lächelnd quittieren. Kowald macht mit kehligem Geraune den Schamanen, er macht den Brummbären, vor dem das Saxophon erschaudert. Seinen Joggergroove umbläst Harth verboten arabesk, das nächste und übernächste Gerubbel untergräbt er im urigen Kontrabassregister, wobei er ab und an balzend aufheult. Er bleibt auch ganz tief unten, wenn Kowald die Saiten mit den Fingern bassig schnarren, wenig später aber auch wieder spitz schillern und stöhnen lässt. So down und out und katzenjammerbluesig klingt es aus. Einer wie ich, der gern im Dunkeln lacht, lächelt da erst recht. [BA 81 rbd]

MAN, OR MONKEY?



Die vor einem Jahr (BA76) angekündigten Wahlzettel sind eingetroffen, in Gestalt der 30th Anniversary Cassiber Box (ReR Megacorp, 6 x CD + DVD, ReR CBOX). Eins ist dabei sicher: Die Wahl ist nicht leichter geworden, nicht in den letzten 12 Monaten, nicht in den vergan- genen 30 Jahren. Welche Wahl? Die zwischen Gelächter und schmerzlicher Scham, um es mit Nietzsche zu sagen. Als Wahl-O-Mat liegen vor: Die von Christoph Anders, Chris Cutler, Heiner Goebbels und – bis 1984Alfred Harth eingespielten vier Studioalben Man, Or Monkey (1982), Beauty & The Beast (1984), Perfect Worlds (1986) und A Face We All Know (1990); als The Way It Was „Live Recordings and Studio Sketches 1985-92“; als Collaborations die Projekte Duck And Cover und Cassix; und auf Elvis Has Left The Building Konzertmitschnitte vom 18. Deutschen Jazz Festival, Frankfurt/M., Oktober 1982, aus Sao Paulo, Juli 1984, und in der Akademie der Künste der DDR 1989. Für BA war CASSIBER eine der
prägenden Erfahrungen der 80er Jahre. Die guten Gründe dafür sind hier nachhörbar: Als  – ich wiederhol mich da gern – stupende Mixtur aus Improvisation und Songs, aus Post- punk-Verve und Art-School-Knowhow. Der von Harth und Goebbels im Duo seit 1975 schon entwickelte Bach-Eisler/Brecht-Thrill, verstärkt in zugleich expressiver und neusachlicher Morphologie mit Cutlers Drumming und dem Krach und den theatralischen Deklamationen von Anders, einem der grandiosen Nicht-Sänger jener Jahre. Cutlers erregter Kampf-mit-Windmühlen-Stil, zuletzt durch die Art-Bears-Trilogie forciert, hatte sich kurz vor der Einspielung des Cassiber-Debuts (August 1982) auf der Tour mit The Work in Japan noch punkig verschärft. Seine unorthodoxen Army in banners-Märsche korrespondierten perfekt mit der Mobilmachung des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters (1976-81), das Harth & Goebbels im Geist von Charly Haden‘s Liberation Music Orchestra initiiert hatten als egalitäre Plattform für Sponti-Kreativität, kritisches Denken und das Ghostbusting von
Verblendungszusammenhängen. Ein weiterer Schleifstein für CASSIBERs Ästhetik war die von punkiger Simplizität und der Stimme von Anders bestimmte Gruppe, die Harth 1979 mit Uwe Schmitt (der mit Goebbels in der Jazzrockformation Rauhreif getrommelt hatte) und Nicole van den Plas (Harths Partnerin in E.M.T.) formiert hatte. Da, in Harths Projekt Es Herrscht Uhu Im Land (mit Anders, Goebbels, Rolf Riehm, 1980), in den beiden mittlerweile elektrifizierten 1981er Goebbels/Harth-Alben Bertolt Brecht: Zeit wird knapp (mit Dagmar Krause und dem Schauspieler Ernst Stötzner) und Der Durchdrungene Mensch / Indianer für Morgen, und in der Inszenierung der von Goebbels, Harth & Riehm komponierten Abrazzo Oper (mit dem Schauspieler Peter Franke) 1981 in Recklinghausen fügten sich die Bausteine für CASSIBER zusammen: Not only Punk & Jazz, but Dada & Free Music, also New Music & Literature (O-Ton Harth).
Modernistisches Montageprinzip und postmodernes Crossover setzten L. A. Fiedlers
Parole „Cross the border - close the gap“ in die Tat um. CASSIBER vereinnahmte Bach, Brecht, Eisler, Hölderlin, Jandl, Pynchon, Schönberg, Schwitters als ‘Volksvermögen’ zu Django und Trinità. Für ihre ‚Ästhetik des Widerstands‘ taugte griechische Mythologie ebenso wie ‚Sag mir wo die Blumen sind‘ und ‚At Last I Am Free‘. B. A. Zimmermann, Henry Cow und Sven-Ake Johanssons freigeistige Dorfmusik kreuzten sich als ‚vom gleichen Stamm‘. Die „Polyphonie der Mittel“ (Goebbels) und die Power der multiinstrumentalen, sich aus dem Lärm von Synthesizern, Tapes, E-Gitarre, wildem Gebläse und perkussiver Wühlarbeit ballenden Performanz machte, unter dem Damoklesschwert der Pershings, Kolonisation als Fluch, Ausbeutungsverhältnisse als Dauermalaise und Umweltverschmutzung als Menetekel hörbar. Anders‘ alarmierter, deklamatorischer Ton, ähnlich dem von Peter Hein bei Mittagspause und dem fast zeitgleichen von Sea Wanton bei Non Toxique Lost, ging unmittelbar unter die Schädeldecke. Goebbels musiktheatralisches Oeuvre von Verkommenes Ufer (1984) über Der Mann im Fahrstuhl (1987) und Römische Hunde (1991) bis Ou bien le débarquement désastreux (1993) etc. fußt auf diesen Fundamenten und insbesondere den ‚menschlichen‘ Stimmen.

CASSIBER kämpfte dabei nicht allein, Stormy Six aka Macchina Maccheronica in Italien, Etron Fou Leloublan in Frankreich, Aksak Maboul in Belgien, Alterations in England, Skeleton Crew aus New York bildeten ein Rhizom, das über den R.I.O.-Gedanken hinaus sich in Parallelaktionen verbündete, aber oft genug auch in konzertierten. Cutler mischte bei Aksak Maboul mit, Harth formierte nach dem Ausstieg bei Cassiber mit Steve Beresford von Alterations und Ferdinand Richard von Etron Fou Gestalt Et Jive. Zuvor jedoch vertieften Harth & Co. die 1980 gemachte Bekanntschaft mit Stormy Six 1983 im Portmanteau-Sextett CASSIX (Cutler, Goebbels, Harth + Franco Fabbri, Umberto Fiori, Pino Martini). Mit den sieben Stücken, die damals gemeinsam in Montepulciano fabriziert und 1986 auf Re Records Quarterly Volume 1 No. 3 präsentiert wurden, bringt Collaborations ein Wiederhören. Fioris Stimme gibt da einen folkrockigen, bei ‚Tempo Di Pace, Bari‘ durch Harths
einmal mehr herzensbrecherisches Saxophon auch ganz melancholischen Touch. Wildes
Grillengezirp hält dagegen, ebenso ‚The Stanislawsky Method‘ als reine Klangkollage mit Stimm-Sample. ‚Copy Machine‘ komprimiert die Stormy-Six-Essenzen auf 1:52, Fabbris Gitarre und das Pathos des Gesangs erstarren in ihrer Bewegung wie Berninis Apoll und Daphne. ‚Cripta‘ klingt wie ein Cassiber-Remix.
Mit DUCK AND COVER hatte Re Records Quarterly Volume 1 No. 2 schon 1985 ein weiteres Cassiber-Spin-off verewigt. Diese Supergroup, bestehend aus Cutler, Goebbels, Harth, Fred Frith & Tom Cora (Skeleton Crew), Dagmar Krause und dem Posaunisten George Lewis, der Mitte der 80er zwischen Braxton und Zorn ständig auch europäische Avantluft schnappte, entstand auf Anregung von Burkhard Hennen für das Moers Festival 1983.
Collaborations rekapituliert ihr am 16.2.1984 beim Festival des politischen Liedes in Ost-berlin dargebotenes ‚Berlin Programme‘, eine freie Suite aus Art-Bears-Songs und Indianer für Morgen-Stoff. ‚Kein Kriegsspielzeug für Jonathan‘ und ‚Dunkle Wolk‘ verraten noch den Kontext des Wettrüstens und des Widerstands dagegen. Dass Günther Anders (auf den Goebbels Bezug nahm) eine Effektivität des Protestes einforderte und Pete Seeger bis zuletzt an die Wirksamkeit engagierter Symboliken glaubte, erscheint gleichermaßen illusionär. Was nicht heißt, dass es nicht notwendig ist. „Rats and monkeys crowd the city as it crumbles into ruin“ konnte man 1984 als Prognose für dies und das hören. Aber „Walls are loosening – true, but gates are blocked“? ‘The Song of Investment Capital Overseas’ als zynische Globalisierungshymne, ‘Freedom’ als Neoliberalisierungslektion und Brechts
Emigranten-Blues ‘Und ich werde nicht mehr sehen’ sind inzwischen sogar noch wahrer
geworden. Wenn, laut Cutler, das Bemühen darin bestand, die Zwickmühle zwischen
Kräften der Ablenkung (distracting) und der Austrocknung (draining) aufzuzeigen, dann haben Duck And Cover und Cassiber das geleistet. Und mehr.

Um das legendäre Jahr 1984 herum verblassen Begriffe wie “Utopie”, am Horizont tau-
chen “das Ende der Geschichte” auf und Hyperrealitäten, auch Rhizome… die alternativen Spontiwärmepole der 70er gehen trotz immanentem Protestgeist und alledem in den 80ern eher baden, hinterlassen coolere Asche. Field recordings ziehen in die Musik des Duo Goebbels/Harth mit ein, Hightech & Elektronik breiten sich aus … Postmodernität & Cyber-world… von Adorno zu Baudrillard (O-Ton Harth). Harth präsentierte 1985 in Moers seine turntablistische Collage Anything Goes. Als für ihn mit CASSIBER schon nichts mehr ging, wenn auch nicht aus musikalischen Gründen. Und ich denke auch nicht, dass ihn die Lyrics von Cutler störten. ‚Dust and Ashes‘ (auf Perfect Worlds) kaute ja ebenso am neuen Zeitgeschmack wie ‚Die Reise nach Aschenfeld‘ auf dem letzten Goebbels-Harth-Studioalbum Frankfurt-Peking (1984). Das wurde mir damals so auch gesagt, dass ich leider zu spät gekommen sei, Camberwell Now wäre nur ein Schatten von This Heat, News From Babel nur ein Hauch von Henry Cow, die 80er nur die Nachglut der späten 70er. Für mich war aber alles neu und ich blieb für Jahre enthusiasmiert. Auch beim Wiederhören von CASSIBER live Ende 1988. Das Ende meiner Illusionen (nicht aller) brachten erst die 1990er.
Aber ‚Ach heile mich‘, ‚I Tried to Reach You‘, ‚A Screaming Comes Across The Sky’ und das „Wie ein Stück Vieh!“ aus dem ‚Prisoner Chorus’, behielt das nicht durchwegs seine Gültigkeit? Gegen den Verrat des Geistes an die neuen Medien, die neuen Märkte, gegen (aufgeklärten) Zynismus als Coolness und gegen Affirmation als höchster Form der Dissidenz. Deleuze, deleuzer, am deleuzesten. Statt oben oder unten, hüben oder drüben, nur noch Das hier. Alternativlos.
„Arriba!“ verhallte ungehört, um „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ breitete sich Stille aus. Doch aus der Wüste des Realen tauchten immer wieder Gespenster auf (wobei Hauntology das Gegenteil von Retro meint): Archetypen wie Hamlets Vater, Medea, der Ewige Jude. Bei Arbeit, Broken.Heart.Collector, Ground Zero, Das Kapital, La STPO, Claudio Milano, 7k Oaks, Sleepytime Gorilla Museum, The Ex… fand ich Meme von CASSIBER wieder. Das ganz Spezifische daran offenbart sich bei Elvis Has Left The Building. Noch einmal zum besseren Verständnis: We met ... with the idea to improvise 'completed
pieces'. In other words, not to 'improvise' in the familiar, abstract, 'Free Jazz'/Darmstadt' mode, but rather to attempt spontaneously to produce already structured and arranged material. The double LP Man or Monkey was the result. And that could very well have been the end of it, except that the LP was so well received in Germany it led almost immediately to an invitation to perform at the 1982 Frankfurt Jazz Festival. We considered how to approach this, and decided in part to invent new pieces in real time, as we had in the studio, and in part to 'remember' and reproduce some of the pieces from the LP, without learning or rehearsing them. This became our general approach to concerts for the next three years, until Alfred left in 1986 (O-Ton Cutler). Dieses “spontaneously” und “in real time” vermittelt sich sinnfällig in Frankfurt und bei den folgenden Konzerten als Erregung, wie sie schon Goebbels bei seinem Cut-up von der Protestfront ‚Berlin Q-Damm 12.4.81‘ inszeniert hatte: „Ich schieße, ich mach keinen Spaß! Ey, haut mich hier raus!“ Angeheizt wurde das CASSIBER-Fieber von Beauty/Beast-Man/Monkey-Spannungen. Und von der
Courage, keine fertigen Stücke vorzuführen, sondern sie ‚from scratch‘ zu skizzieren, als Torsi, die erst im Kopf ganz Gestalt annehmen. Cutler fährt unter seinem leuchtenden ‚Heiligenschein‘ wirbelnd fast aus der Haut. Anders hämmert dazu auf Eisenbrocken und Blech wie die Einstürzenden Neubauten. Bei ‚Our Colorful Country‘ bläst Harth mit Piccolotrompete zum Angriff, bei ‚Don’t Blame Me‘ mit Posaune. Die Schärfe der Attacken hebt das Pathos auf in Nervenkitzel, die durch das Auge als totale Erinnerung zünden. Cutlers unorthodoxer Drive und Krawall sind so denkwürdig wie Harths ureigene Verschaltung von Feuer und Feeling. Sein Ausstieg war ähnlich gravierend wie der von David Jackson bei Van der Graaf Generator. Wobei ja beide Trios hörenswert blieben. CASSIBER jedenfalls vermittelt(e) mit "delirious frenetic energy" (Donal McGraith) eine "Dringlichkeit" (Karl Bruckmaier), dass man sofort auf die Straße stürmen möchte, um sich den Status quo nicht länger bieten zu lassen. Diese Musik gehört ganz einfach zum Überlebensset wie der Gegenstand, den man Schleifstein nennt.

Rigobert Dittmann, BA80