SEON AVALANCHE - SEOUL SOUL

ALFRED 23 HARTH sagt als halber Koreaner Seon (wo Japaner Zen sagen). Dass sein Streben nach Seelenfrieden und Erleuchtung irdischer Verwer­fungen, Eruptionen und Lawinen gewärtig ist, zeigte beispielhaft sein Auftritt mit 7k OAKS beim Open Circuit-Interact Festival im belgischen Hasselt 2008. Als Entelechy (Die Schachtel, DSZEIT 13) ist über­liefert, mit was Harth, Luca Venitucci an Keyboards, Massimo Pupillo am E-Bass und Fabrizio Spera an den Drums damals das Publikum konfrontierte. Treffender als mit dem oxymoronen 'Seon Ava­lanche' hätten die anfänglichen 17 Min. kaum getauft werden können. Grummelnd und knurrend löst sich im kollektiven, von Pupillo mit rauem Splatterbassgelärme geschürten Furor eine Klang­lawine mit perkussivem Blitz und Donner und keyboardistischem Eifer, als würde Venitucci neben den Fingern auch noch mit den Ellbogen und der Stirn auf die Tasten einhämmern. Und Harth gießt Öl ins Feuer mit erhabenen Tenorstößen, die sich zuspitzen zu unvermutet himmelschreien­der Intensität. Dann lässt er Raum für die Keyboards, den von kakophonen Effekten umrauschten reibeisernen Bass und das Drumming, sich aufzufächern. Um wieder einzusteigen mit einer weiteren gutturalen, immer unwiderstehlicheren Tenorattacke, die mit Feuereifer auf Gipfel des süßen Wahnsinns, in die Erleuchtung, die Auferstehung jagt. Aber ohne präzise Katharsis deeskaliert das Quartett zu 'Soziale Plastik' und verweist damit, wie schon mit dem Bandnamen, auf Joseph Beuys. Mit Bassklarinettengemurmel und tachistischen Geräuschflocken nimmt sich die Band zurück und gibt dem Beuysschen Ideal Raum, jetzt im mit allen geteilten Wachsein gemeinsam zu atmen. Pupillo kratzt und splittert noisige Späne. Keyboards und Electronics dröhnen und schimmern, jetzt schon, wieder ohne Schnitt, bei 'Labor Anti-Brouillard'. Benebeln ist nicht das Ziel. Im Gegenteil. Spera klopft mit Muscheln, der Bass brummt, Harth schnaubt mit Pocket Trompete, Venitucci stakst fingerspitz. Ein Speragroove treibt und stützt einen Harthschen Halteton und die erneut anschwellende Intensität. Bis Harth auf dem Tenor eine hier und so nicht erwartete, erst nur ganz fragile Version von 'At Last I Am Free' anstimmt und mit dem Herzen auf der Zunge zartbitterste Gefühle weckt, die 7k Oaks dann mehr und mehr wie ganze Eichenwälder aufrauschen lässt. Dabei sind Zeilen wie I can hardly see in front of me und But who am I fooling When I know it's not real? I can't hide All this hurt and pain inside I feel mit ihrer vergifteten Freiheit nicht weniger oxymoron als der Auftakt. Einsichten, die einen wie Lawinen unter sich begraben. [ba 71 rbd]


In BA 71 by Rigobert Dittmann
* Number 1 of BA's Favourites 2011


RED CANOPY (Kendra Steiner Editions, KSE #200, 3" CDr)

Dieses Kleinod hat seinen Namen von der roten Markise an Alfred 23 Harths Laubhuettestudiofenster in Seoul. Dahinter entstanden 7 kleine Stücke, in kreativer Spielerei mit Material, das schon 2005 im Hinblick auf den Mother-of-Perl-Release NUN aufgenommen worden war. Aus Spuren des Pianos von Soojung Kae und des Kontrabasses von Chang U Choi, dazu eigenen Reedklängen und einigen weiteren Zutaten, komponierte der große Laubhuettenfrosch Wunderkammerjazz oder, einfacher gesagt, Harthmusik. Für ihn sind es persönliche Notizen "über Leben & Leid", wie er es mir gegenüber nannte, Reminiszensen an eine Zeit, in der sich im Schatten der Erinnerung Erquickliches mit Unbehaglichem mischt. Für unsereins sind es Klanggedichte. Er bettet seinen klangvollen, hitzigen, bei '8th day' sogar im Chor aufflackernden Bassklarinetten- oder Tenorsaxophonton auf sonores Pizzikato und träumerische Pianonoten, teils auch auf düstere Clusterschläge oder seltsam verbogenen Innenklavierklang. In das tiefmelancholische Tête-à-tête von 'Shining' greift er erst spät ein mit der ganzen Jämmerlichkeit, die er aus einem Taepyeongso, einer koreanischen Oboe, quetschen kann. Bei '13th month' legen sich dissonante Gitarrenlaute und kantige Pianonoten gegen das Tenorsax quer. Den Katzenjammer von 'Un soir at Yeonhee II' kann ich erst allmählich als schrille Basskakophonie erkennen, bevor sie Choi mit sonoren Strichen verwischt. Die Stückchen sind innen größer als außen. Die enigmatische Verwandlung von Bewegung und Farbe in Gedanken und Gefühle gelingt Harth, als wäre das Studio kein bloßes Instrument, sondern ein Alchemistenofen.


In BA 71 by Rigobert Dittmann

ALFRED 23 HARTH micro-saxo-phone. edition III (Kendra Steiner Editions, KSE #175, CD-R)

Genau zwischen dem starken Eindruck, den Jeremiah Cymerman mit Klarinette & Laptop live hinterließ und ‚Frankfurt - Beijing - Seoul‘, Harry Lachners NOWJazz-Porträt von A23H, erreicht mich, via San Antonio, TX, ein neues EAI-Statement aus dessen koreanischer Laubhütte. Mit Saxophonen & Bassklarinette + Contact Mics + Kaoss Pad/Laptop-Wizardry + X spielt Harth seine unpuristischen Versionen von ‚bodhi & seoul‘ - ohne Twist of words & mind geht bei ihm nichts. Von gefühlsecht bis cybertechnoid verlängert er damit seine bereits mit Plan Eden (1987) initiierten und mit msp.eII (2008) durchlauferhitzten Demonstrationen, was Materialfortschrittlichkeit bedeuten sollte. Mit auch wieder autobiographischer Emphase unterlegt er einige der massiv verdichteten und anspielungsreich gesättigten Multitracking-Tracks mit der eigenen Tonband- oder Altosaxstimme von 1972, seinem 23. Lebensjahr. X steht für Stimme, Flöte oder Gitarre. Und für eXtended techniques. Anspielungen evozieren Rimbaud, Orwell, den MaschinenintelligenzproGnostiker Ray Kurzweil, den bewusstseinserweiternden Terrence McKenna, setzen also die Sonic-Fiction-Segel für eine trunkene, phantastische Reise in die Zukunft des Homos@piens. ‚Doublespeak‘, der extraordinärste Track, mixt hyperbabylonisch und mit veräppelndem Witz D.T. Suzukis Einhandklatschen mit der Eidechsen mausenden Katze des aufgeblasenen Fotokünstlers Nobuyoshi Araki, Opernarien mit koreanischem Gagok, Geflöte mit Madame Blavatsky beim Bauchtanz. ‚Surplussed I-IV‘ mikrowellenerhitzt Altosound in der eigenen Spucke auf immer höheren Hitzestufen. Aber Harths Tenorsax kann danach pur nicht weniger harth klingen. Dass sein Ton & Timbre zu den herzhaftesten, aber auch reflektiertesten unserer Zeit gehören, ist leider etwas in Vergessenheit geraten. Allerdings versteckt er sie gern unter Noise und irritiert mit V-Effekten, etwa losem Maulwerk oder Houyhnhnm-Gesang. ‚Chukyo‘ und ‚Paleomagnetic anomalities‘ durchsetzen Bassklarinettenursonaten oder Mikrogeschmurgel und -gezülle mit klappenmechanischem Gerumpel oder ‚Orgel‘-Clustern. Jedes der 23 hoch 23 Härchen ist hier bis zur Wurzel vollgesaugt mit quecksilbriger Postmodernität und quickem, bewusstseinserheiterndem Witz. Telekom and Getz IT, es gibt nur 123 Exemplare.

In BA 69, Rigobert Dittmann