Mit Live in Rhein-Main (DNN 042 C, 2xCD) macht das wunderbare Label ADN in Mailand zwei weitere Konzertmitschnitte von GESTALT ET JIVE erstmals zugänglich. Als eines der – zusammen mit Cassiber, Duck and Cover, Vladimir Estragon – Projekte, in denen Alfred Harth mit Gleichgesinnten an Kollisionen und Fusionen von Jazz, NY Downtown, Postpunk und Rock in Opposition züngelte. Von 1984 bis '85 – eingefangen auf „Nouvelle Cuisine“ (1985) – mit, neben Ferdinand Richard (Etron Fou Leloublan) an Bassgitarre, noch Steve Beresford (Alterations, Frank Chickens) an Keys und Anton Fier (Pere Ubu, The Golden Palominos) – der 2022 den Freitod wählte – oder Uwe Schmidt (Sogenanntes Linksradikales Blasorchester, The Punkjazz Group) an Drums. Danach von '85 bis '88 als Trio mit Peter Hollinger (1954-2021), dem Drummer von Uludag – festgehalten auf „Gestalt Et Jive“ (1986). Nun wird das vertieft mit ihrem Spiel am 12.10.1986 im ARTist, Wiesbaden und am 21.03.1987 beim Hofheimer Jazzfest. Mit Richard als struppigem Drahtharfer, Hollinger als energischem Groover oder lakonischem Poltergeist, und A23H einerseits an Alto-, Tenor- & Sopranosaxophon, Harmonika, Whistles, Lockpfeifen und Vocals, andererseits mit auch noch Bassklarinette & Maultrommel. Und der ganzen Sophistication von 'Beltane' (dem irischen Sommeranfang'), 'Historiopoetik', 'Archipelagisches Denken' (das kreolisierende Weltdenken nach Edouard Glissant, in elegischer Hymnik), 'Laissez-vous Sortir!' als holprigem Drehwurm, dem 'Joïk Instrumental' als plinkplonkigem D'n'B, 'Mudang' (koreanische Schamaninnen in Trance). Bei 'Komischer Dreh, Inferenz' singt Harth punkig: Viele Menschen meinen, dass Du nicht das Recht hast zu existieren. 'Emisch' bringt Kulturanalyse mit den Augen eines Insiders. 'WaschSalon Dilemma' spielt, ostinat geschleudert, an auf Harths Frankfurter Avantgardegalerie von 1984 bis 1991, 'Famadihana' in besinnlichem Andenken an Holli und an Fier an auf das Leichenwendfest in Madagaskar, 'Imbolc' auf das irische Frühjahrs-Licht-Fest. 'Engel auf Nadelspitze' tanzt selber da mit spitzen Pfiffen, und bassbeplonkte Bassklarinettenwellen und raukehlige Strudel führen hin zur hollingeresk groovenden 'Koffer Encore'. Sowie Hofheimerseits mit 'Quicksand', 'Colloidal Suspension', 'J'aime Le Vent', 'Tyndall Effect' (Streuung von Licht), 'In Pursuit of Limping Rhythms - For Paul Feyerabend' (auf den Harth sich auch mit „Anything Goes“ bezog), 'Peculiar State of Affairs', 'Gaya Scienza' (Nietzsches Fröhliche Wissenschaft), 'Boltzmann-Konstante' (der Proportionalitätsfaktor, der die Entropie direkt mit der Anzahl der Mikrozustände verknüpft). Dabei machen sie mit eindringlicher Insistenz Alarm und jagen die Imagination über aufgewühlte Pflasterstrände. Harth mit feurig gerotztem, gespotztem Gusto, mitreißender Vitalität, souveräner Bläserlust, der all that Jazz auf der Zunge liegt wie roter Pfeffer. Dazu mit agitativen Shouts, Trillerpfeife, zu strammem, prickeligem, wirbeligem Strumming und schepperndem, poltrigem Drive. Er war wohl nicht pflegeleicht genug, um sich nur Freunde zu machen. Sonst gäbe es keine zwei Meinungen darüber, dass er als Wizard an Reeds Seinesgleichen sucht(e). Ganz zu schweigen vom Überschuss seiner Kreativität an sich. Die pfingstliche und juckpulvrige Brandstiftung springt über, vor allem aufs Hofheimer Publikum, das noch nichts ahnt von seiner eigenen Saurifizierung – with a whimper, ganz ohne Kometen-Bäng. 'Die Zersplitterung' ist da noch die rasante Vorstellung meiner G-g-generation, den hohlen und letzten Menschen pulverisiert zu sehen. [BA 131 rbd]