ALFRED HARTH ~ PETER FEY Sweet Paris (Moloko+, PLUS115, 2xCD): Eine Reise, nein, nicht mit dem Fahrrad ohne Licht durchs nächtliche Frankfurt – das wäre Peter Fey allein („Wenn mein Fahrrad Ohren hätte“). Vielmehr ist es eine Zeitreise in die Spät-80er/Früh-90er-Jahre, als Harth in Oh Moscow, Vladimir Estragon oder Trio Trabant a Roma mit Lindsay Cooper und Phil Minton musizierte, aber zugleich Collage, Montage und das Cut-up von Jürgen Ploog und W. S. Burroughs für seine Theater-, Film- und Hörspielmusiken nutzbar machte. Auch in „Sweet Paris“ (Free Flow Music Production, 1991), geschichtet aus poetischen Paris-Eindrücken, die der Karlsruher Künstlerfreund Wolf Pehlke (1955-2013) brieflich mit Harth, dem Mann mit dem Saxofon, geteilt hatte. Daraus geradebrechte, englisch übersetzt oder einfach so gelesene Zeilen über Untergeher in den Bars, auf dem Friedhof, in der Metro, in Hiroshima-mon-amour-durchschauerten Nächten, in von Hynkels und Dalis Schnurrbärten eingeklammerten Zeiten, hat Harth hörspielerisch vitalisiert mit Pariser Flair und persönlichem Sentiment – auch er hat damals ja Paris durchstreift. Und durchwirkt mit eigenen musikalischen Sedimenten, voller Saxfeuer und Feeling, durch Kassettenmaterial mit u. a. Nicole Van den Plas, Christoph Anders, Peter Kuhlmann aka Namlook, Wolfgang Seidels Populäre Mechanik, La Guardia und Gestalt et Jive, bis zurück zu seinen 'Melancholy Blues'-Anfängen als Teenager. Dazu hatte noch, mixerisch und mit Elektro-Beats, Peter Fey die Finger im Spiel, eine Doppelexistenz aus Arzt der Psychiatrie und Musiker (mit einst Collectionism und jetzt Ugly Species), und mit seinem Tonstudio aufnahmetechnisch involviert bei Gestalt et Jive, Harths Creative Works und Imperial Hoot, Heiner Goebbels, Achim Wollscheid, Rüdiger Carl oder Uwe Oberg bis hin zu Ekkehard Ehlers, Brian Eno, Jan Peter Schwalm und Panacea. Was damals gestalterisch in der Luft lag, als Versuche, Bretons künftiger Schönheit konvulsisch zu entsprechen, hört man von „Anything goes“ bis hin zu „SHADOW / Landscape with Argonauts“ oder Jac Berrocals „Fatal Encounters“. Und besonders schön hier, von 'Pyramides' und 'Oberkampf' bis 'Invalides' und 'Sweet & Bitter Little Death', und allem zum Trotz nicht ohne leise Hoffnung unter von Katzenpfoten getupftem, von Bassklarinette lüftlgemaltem Gewölk.
Samstag-Nacht, während ich beim Freakshow Artrock Festival →Ghost Rhythms lauschte, brachte SWR2 „Sweet Paris Reloaded“ - Harth & Fey (+ Van den Plas an Piano & Organ), 30 Jahre später, mit einem brandaktuellen Update. Zu 'Cambodia' und 'Stalingrad' braucht man nur Afghanistan und Mariupol denken. Sie lassen nochmal Sun Ra, Rimbaud und Breton als Kometen aufleuchten, die Nouvelle-Vague-Jahre einer Generation in Zeitraffer vorüberziehen, die Saxflamme an den Gräbern von 'Unsterblichen' aufflackern. Mit melancholischem Singsang und - insgesamt textbetonter - ungehörten Zeilen von Wolf Pehlke, der sich auf dem Hundefriedhof unter Seinesgleichen fühlt, der in wortkargen Nächten Absinth nippt in Gedanken an Komplizen wie Proust, Max Ernst, Oscar Wilde, der sein Glas Wodka erhebt für Colette, Gertrude Stein, Simone Signoret, der unbesiegbaren Afrikanerinnen und Vietnamesinnen nachschaut, selber nur Sklave, Laborratte, Wurm, der sich in trostloser Stille selber frisst. Einfühlend gesprochen ist das von Wolfram Koch (dem Frankfurter Tatort-Ermittler). Friedhöfe verstauben, Philemon und Baucis verwittern, aber Flucht und strandende Rettungsboote haben weiterhin glänzend Konjunktur. Pehlke/Koch beschwört Huysmans, Belmondo, Beckett als von Akkordeon umschillerte Nothelfer, die aber vorwurfsvoll den Finger in Wunden legen. Die Rastignacs machen Karriere, auf ihn, Mann ohne Eigenschaften im existenziellen Exil, Schwindler-Kojote mit wunden Füßen, Statist auf Peter Brooks' leerer Bühne, Voyeur weißer Wände, Hüter weißer Blätter, scheißen die Tauben. Die Zukunft wird blond sein wie Marilyn Monroe und ums Goldene Kalb tanzen, sie wird ein Archiv sein und unter ihrem Gewicht erstarren, sie wird nur noch ein der Addition und Subtraktion unterworfener Haufen von Pixeln sein, sie wird hysterisch, sie wird anarchistisch, sie wird gewesen sein. Und Gottes Ebenbild wird dabei so obdachlos bleiben wie immer schon und überall, erniedrigt und verbraucht, Bodensatz für unsere trockenen Füße und unsere jämmerliche Gemütlichkeit. Dylan wurde nobelgepriesen, die Nürnberger Protokolle zum Arschwisch, doch Pehlkes Briefe, kindlich zum babylonischen Papierturm gestapelt, trotzen dem Vergessen. Und der Vorgeschmack des Glücks und der Vergänglichkeit, er schmeckt am Mundstück der Bassklarinette so bittersüß wie eh. [BA 116 rbd]