ALFRED HARTH'S REVOLVER 23 - Kirschblüten mit verstecktem Sprengstoff (Moloko+, PLUS 106)


Moloko-isiert zwischen "Muspilli Rökrökr Mashup" (dem Rückgriff der Papenfuß-Jestram-Joswig-Lippok-Blase auf "Muspilli Spezial - 9 Versionen des Weltuntergangs") und "Gezieferreigen" (wo »Blauholz« von Ditterich von Euler-Donnersperg auf »Triebstruktur und Gesellschaft« von 'Henry' Marcuse trifft), müssen sich A23H & Co. mit ihren ex- plosiven Kirschblüten auf die Hinterfüße stellen. Und tun das auch. Als Klangereignis beim Jazz in Autum Festival im Oktober 2018 im Moskauer 'Dom'. Mit Alfred Harth an Reeds, Stimme & Posaune (con arco?), an der Gitarre Nicola L. Hein (als Honigpumper unter 7000 Eichen wie gesucht und gefunden per 7k Oaks-Detektor), Marcel Daemgen (Harths Partner schon bei Imperial Hoot) als Arbeiter mit künstlicher Intelligenz und Jörg Fischer (der sich bei Daemgen & Harth bereits bei "Confucius Tarif Reduit" eingehenkelt hatte) an den Drums. Dazu mit einem Überbau aus Hegels "Vorlesungen über die Ästhetik" (Das Kunstwerk... als für den Sinn des Menschen... dem Sinnlichen entnommen) so - wie Harths Covergrafik - mit einem (Sternzeichen)-Schützen im periodischen Suizidance, der mit der 23 als im Herzen verstecktem Sprengstoff den Revolver in einen Lover umdreht, zudem nicht wehrlos dank Amors Pfeilen. Als ein Ritter der Revolte und des Lustprinzips, eigentlich ganz in Marcuses Sinn, der ästhetische Erfahrung verficht und die 'Vollkommenheit nachhaltig nährender Erlebnisse' als Modell einer von repressiven Strukturen befreiten Welterfahrung. Frankfurter Schule? Burroughs'sche Shotgun Art? Mit der Verve von Kamikazefliegern losbrausend, als selbstmord-attentäterischer Schauer von Kirschblüten, ergießt sich wilder Free Electric Jazz, und Harth schreisingt dazu koreanische Parolen. Doch dann wird dieser furiose Abwehrzauber gegen die wieder über Korea kreisenden japanischen Vampire abgefangen und elegisch umgekehrt in gedämpfte, fast stumme Klage. Mit Schweb- und Dröhnklängen nun, die tatsächlich nur noch blühen und fallen. Harth singt dazu Freedom, zieht aber mit quäkiger Taepyeongso und rauem Tenorsax das Tempo wieder an. Aufgelöst in Luft, folgt dem ein stupendes Bassklarinettenkunststück - da kann nicht mal Rudi Mahall dem Harth was vormachen - zu pochenden Pixeln und unkendem Quarren, das die 'ka', die Kirschblüten-Bomber (die von den Amis 'Baka' = Idiot genannt wurden), entmaterialisiert zum 'Suizi-Dance'. Als fröhliche Wissenschaft, die, tanzend, dem Todestrieb spottet und dem Realitätsprinzip eine Nase dreht. Hein wie verrückt tremolierend und fetzend, Harth an Posaune und wieder krähenden, röhrenden Reeds spielen stürmische Lover, zeigen sich aber auch, plörrend, rossig schnaubend, bruitistisch und mit allerhand Klimbim, als rasante Geisterfahrer, vertraut mit 'Halbapolitische(n) Strategien alter Provokationsschule'. Harth grillt als Elementargeist Frösche auf Eis - Hahaha. Hein steckt Daemgen mit einer Lyrik ohne Bodenhaftung an, ist selber aber schon wieder kakophon zugange, wäre jetzt nicht ein un- erwarteter Groove angesagt, mit posaunistischen Narrenkappenzipfeln, "weißt Du, ich bin gleicher als Du". Mit nochmal vor den göttlichen Winden die Nase zukneifendem Reedge- quäke und noisigen Schlieren. Windschief, aber von sublimer altmeisterlicher Schönheit, altissimo und guttural in nur einem Atemzug, auf weichen Dunkelwolken, und selbst Freund Hein zeigt sich dem blühenden Leben zugeneigt, das als Marcuses 'Skandal der qualitativen Differenz' aus den Lücken im Unfreien sprießt. Voilà: Negation der Negation (Hegel) + der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (Schiller) + travail attractif (Fourier) + die negierende Kraft der Kunst (Marcuse). Letztere schließt ein, auf sich selber zu schießen, als die gute dialektische Praxis, aus Revolvern Kirschblüten abzufeuern.

Rigobert Dittmann, BA 103

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