SHANGHAI QUINTET - ShangShan (KSE #379) + NICOLA L. HEIN, ALFRED 23 HARTH - When the Future was Now (KSE #400)


Alfred Harth - 
Kendra Steiner Editions (Seoul / San Antonio, TX)

Stone Age Music. So nennt sich, etwas kokett, was im Oktober 2016 im Power Station of Art in Shanghai entstand und nun als ShangShan (KSE #379, CD-R) präsentiert wird. Headliner des SHANGHAI QUINTETs ist Alfred 23 Harth an Reeds & Samples, umringt von Jun-Y Ciao (reeds), MaiMai (guitar), Xu Cheng (electronics & metal percussion) und Tao Yi (drums). MaiMai hat sich mit Muscle Snog und Acid Mothers Temple & The Pink Ladies Blues eingeschrieben, Xu Cheng ist die oberste Instanz der Free-Music- und NOIShanghai- Szene, insbesondere mit Torturing Nurse. Hier ist er, mehr Nurse als Folterknecht, Teil einer neoprimitivistischen Klangmetaphorik. Noch mit Strom und Metall, aber reduziert auf archaische kleine Gesten, klickende Steine, Flötentönchen, bekrabbelte Saiten, pochende, dongende, flickernde Percussion, Game-call-ähnliche Laute, geblasen oder auch per Gitarre. Nach 13 Min. ist der Stein ins Rollen gekommen, der Homo Ludens lässt die Muskeln spielen, Harth hält mit zunehmend hymnischem Tenorsax die kakophile Ursuppe am dampfen. Jun-Y Ciao spielt den Pharoah zu seiner coltranesken, elektroakustisch bezwitscherten und übertrillerten Selflessness. Der große Sprung (31'40") über 'gelbe' Klischees hinweg landet bei einem herzbewegenden Harth'schen Gesang, eingebettet in kollektiv verspieltem Kind- und Tier-Werden, mit lyrisch zartem Ausklang (Part II - 11'01").

Der KSE-Macher Bill Shute zeigt sich überrascht durch NICOLA L. HEIN, ALFRED 23 HARTHs Spielgefährten bei When the Future was Now (KSE #400). Dabei sind die Qualitäten des Düsseldorfer Gitarren-Philosophen kein Geheimnis, durch Norbert Stein Pata Messengers, Rotozaza, als 7000-Eichen-Pflanzer mit Matthias Muche, als Honigpumper mit Mia Zabelka, überhaupt im Kölner Impakt-Zirkel und nicht zuletzt im Ada Rave Trio. Wobei alles, was ich nenne, Lüge bleibt, weil es so viel verschweigt, was dieser kreative Umtriebler auf drei Kontinenten treibt. Anfang Juli 2017 kam er via Taiwan nach Tokyo, wo es neben Konzerten mit A23H (und Joshua Weitzel) auch zu dieser Studiosession kam und zur praktischen Anwendung seines 'Ästhetischen Denkens' in Form von 'Skeptischer Improvisation'. Harth spielte dabei ausschließlich Klarinetten und das Flair des mit Hein gefundenen Zusammenklangs brachte ihm kammerjazzige Parallelen in den 1960/70ern in Erinnerung, den Xmas-Friedensappell von Lennon/Ono ('War is over! If you want it!'), Nam June Paiks Parole 'The Future is Now!'. Allerdings ist der erste Eindruck eher bestürzend, als klarinettistisch brilliante und ruppige Attacke, als würde Hein die Saiten mit Fausthieben und Propeller traktieren. 'Life is a Tape' zügelt das, brütend angedunkelt, mit lyrisch folkloresk unterdrücktem Aufschrei und trillernd aufschrillendem Andrang über rumorendem Grund. '1+9+6+7' bringt dann die ersten balladesken Reminiszenzen, cum grano salis. Bei 'A Society of Screens' schlagen sie wieder rauere Töne an, raspelzungig und grummelnd, klagend, keckernd, dröhnend, wühlend, schillernd. Gefolgt von einem zweiten Quasi-Evergreen, zeitvergessen, ortsentbunden, sogar Hein macht dafür die Finger ganz spitz. Und ganz zart berührt er auch die Saiten für Harths eindringlichen Ruf nach Frieden und Zärtlichkeit, der freilich in kakophone Bedrängnis gerät. Doch 'Wassermannfernsehen kaputtgespielt, - gelacht' hebt erneut wunderbar sanglich an, Hein harft und flickert, Harth nöckt melodienselig und treibt es immer toller. So viel Sinn fanden die beiden, mit geteilter Skepsis im geteilten 'Sinnraum', dass mit Revolver 23 schon die Fortsetzung verabredet ist, mit Harths Imperial-Hoot-Companion Marcel Daemgen und dem bei "Confucius Tarif Reduit" bewährten Jörg Fischer.

Rigo Dittmann, BA 99

LP Kepler-452b / Psych.KG


Himmel hilf! Unendliche Weiten sind nichts gegen die polymorph-perverse Abgründigkeit der Kepler-452b-Expedition. Sollte die tat- sächlich ihren Ausgangspunkt in "Kepler 452b Edition" (Kendra Steiner, 2016 -> BA 91) haben, ALFRED 23 HARTHs xenophoner Allegorie von Leben in einer fremden Welt? Bei Kommissar Hjuler und Frau aka KOMMIS- SAR DIONYSOS UND ARIADNE aka Kommis- sar Teotihuacán und die Gefiederte Schlan- genfrau aka Kommissar Cagliostro und Fan- ferlüsch wuchs sich das aus zum Weltraumabenteuer der Edition Kepler-452b, mit über 30 Folgen (Alben) in den Sektionen A-1 bis A- 10 (Reisevorbereitungen, Entwicklung des Breast-Bondage-Propulsion-Antriebs, Aus- wahl und Training der Crew, Test des An- triebs und Aufbruch), B-1 bis B-Fähre (der Flug), C-1 bis C-5 (Ankunft / Leben auf dem Planeten, der im Sternbild Schwan um einen Gelben Zwerg kreist) und D-1 bis D-L3/2Ü (Tod auf Kepler-452b und weitere Katastrophen im Himmel und auf der Erde). Spielten anfangs österreichische und US-amerikanische Poeten wie etwa Steve Dalachinsky Haupt- rollen, so später auch der deutsche Jürgen Schneider (der auch u. a. Sean McGuffin und Hakim Bey übersetzt hat). Einer der prominentesten Weltraum-Cowboys ist JONATHAN MEESE aka Johnny Meese, mit dessen 'Dear Alien Friend, Ufo Boy, Ufo Girl, Are You Religious ? No, Our Leader Is Art !' sich in der Phase B die Episoden "Das Kepler-452b- Pre-Sequel", "TEIP", "Die ausgebrannten Antriebsaggregate" und "Die Katze" mit Maja S. K. Ratkje auffächern. Zuvor jedoch zoome ich heran an die Episode Aufbruch zu Kepler- 452b (Psych.KG 451 / Section A-8, LP), in der schwarzen Volksausgabe (Auflage: 100) neben den akustisch datengleichen "Datentransfer / The BBP", "Es gibt im Universum viele Dinge, die man besser nicht", "The Geoffrey Krozier Kepler Transformer", "Krystal Boyd" und "Ambulance", Unikaten in koloriertem Vinyl, mit Kinderschockolade, Dia Slides oder Assemblage-Kunst-Cover. Kunst ist doch die wahre Heimat, wie Julian Schnabel in der BILD verriet. Auf dem Cover, als nackte Tatsache verkörpert vom Kommissar und der Mama, füttert Ariadne Dionysos mit Trauben.
Nein, umgekehrt: Er ist Ariadne, hingestreckt, schaudernd, dem Hunde gleich sich wälzend. Sie blickt, der Menschen-Qual nicht müde, mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen, ihm/ihr ganz Schmerz, ganz Glück, ganz Labyrinth. Das Labyrinth, den einen Kunst, den andern Kirche, den einen Wahrheit und Tod, den andern Wahrheit und Leben, wird '...hier ab- gebaut und auf Kepler-452b neu errichtet' (so D & A bei 'Die Kirche wird hier abgebaut...'). Meese diktiert 'K.U.N.S.T. - Tanz' doch mal kein ich (Om Mi Nit On)', mit dem Selbstver- ständnis 'Johnny Meese ist der deutscheste Cowboy (Das ist die Zukunft)'. Und A23H macht 'Zisch!' (und hat dazu Clint Eastwood und Charles Bronson als Spaghetti-Cowboys auf der Werbung für einen koreanischen Club als zweites Covermotiv geschossen). 
Aus der Stille schält sich Ariadnes Klage, heulend, singend, kirrend zu Urlauten einer Art-Brut-Gitarre. Sie fährt tobend fast aus der Haut und droht ihrem Widersacher alles mögliche abzuschneiden. Bei 'Zisch!' wird ihr dafür die Axt geschliffen. Dann stößt A23H zu einem Gitarrendrone wieder und wieder Ich schäme mich (für Trump?) (Pisse?) (Scheiße?) aus und steigert sich dazwischen, jetzt auch noisig umflattert, in einen Saxexzess hinein. Wo bleibt da die Science Fiction? Scheiß auf Ster- nenkrieg und Sternendreck, eIN Planet der Affen genügt. Meese spickt einen Technogroove mit V- Effekten, Spieluhr, Noise und macht dazu Einwürfe wie Ich mache für dich die Grimasse der Kunst... die Alraune der Kunst... Om Mi Nit On... Du kannst doch einfach mal kein Ich tanzen... Entidentifiziert euch... Dass die Leute ichversaut sind, ist ein Problem, das es im 'Kein-ICH' evolutionär aufzu- lösen gilt. Zu Gitarre feiert er in einer seiner wahn- witzigen Cowboy-Performances John Wayne als größten und radikalsten Cowboy Amerikas. Um sich selber darüberzusteigern in wagnerianischem Großformat als radikalster, deutschester und totalster Cowboy der Zukunft, als größter Diktator der Kunst der Zukunft. HÄRTE HUMOR HERZBLUT GOLD- ZUNGE JOHNNY MEESE mit Van-Gogh-Hut, als zugleich Billy the Kid, Zardoz, Nero, Humpty Dumpty, Fuzzy der letzte Verfechter einer Kunst der Überforderung, der Gewalt, der Gewalt der Kunst. Keine Kirche auf Mondparsifal Alpha 1-8 & Beta 9-23! Nein, er will vielmehr als kindischer Parsifal, als Dämonenjäger John Sinclair, die Kunst / das Leben von den finsteren Mächten der Ideologie befreien. Wo Ich war, soll Kunst werden, wo Religion war, sollen Freiheit und Humor herrschen. Alles, was ohne Ideologie ist, ist Kunst. Kunst ist ein ultimativstes Spiel. Und da Kunst immer über das Ziel hinausschießende Zukunft ist, ist sie genuinste Science Fiction. Als Wissenschaft von der künftigen 'Diktatur der Ideologielosigkeit'. Kunst ist keine andere Religion und keine Gegen-Politik, sie steht über Religion, über Politik. All das manifestiert er mit 'Wir brauchen die Neue Deutsche Ordnung (Die Mutterz-Meese-Ordnung)' oder 'KUNST entheiligt alle(s) (Aberglaubt Mi Nit On) (M.E.E.S.E. ist nicht böse)' im weiteren Verlauf der Edition Kepler-452b. Nennt es Kepler-452b-Expedition, nennt es Erzbaby Parsifals Mondfahrt. Die drei !!! hier inter- agieren als Schiffbrüchige der Zeit. Ob A23H wusste, was ihm da zwischen S/M und Meeses S.T.U.N.K als ballernde Weltraumpferdeoperndiva blüht, ist eine andere Frage. Das Ecce homo, das noch im dionysisch-ariadnischen Schrei und im Fremdschämen von 'Zisch!' anzuklingen scheint, aber bereits an der visuellen Oberfläche unpathetisch schillert, wird bei Meese durchlöchert. Meese sagt [im Interview mit der Kulturzeitung 80] „Ja“ zu Picasso, van Gogh, Balthus, Zardoz, Caligula, Lolita, die Mumins, Mutter Meese, Graham Ovenden [der 2013 wegen des Missbrauchs minder- jähriger Modelle verurteilt wurde], zu Dali, The Wicker Man, 2001 Odyssee im Weltraum, Clockwork Orange, Barbarel- la, Die drei ???, Jack London, zu Radika- lität, Liebe, Nietzsche, Richard Wagner, Parsifal usw, usw. Lass ihn rauchen, deinen Colt, Johnny. Ein dekadenter Cop, ein Gunslinger, und habe ich nicht auch schon A23H mit Knarre gesehen? Also, hütet euch, ihr Gesetzlosen.

Rigo Dittmann, BA 99


ALFRED 23 HARTH - JOHN BELL Campanula (Moloko+, Plus 95, w/ 48 p booklet)


Wie schon "Camellia" (Kendra Steiner Editions, 2015) ist hier vieles durch die Blume, die Glockenblume, und durch Poesie in Schwingung versetzt. Durch die poetische Synästhesie von Basho: Die Glocke hat den Tag hinausgeläutet. Der Duft der Blüten läutet nach. In Korea läuten sie wie Gongs. 'Revelations in Slow Motion' schwingt durch die Poesie von Bill Shute mit Buddha Bowls full of speech & circumstances. Durch die klingende Poesie von Klarinetten, Tenorsax, Melodika, E-Gitarre, Synthi, Dojirak (eine Lunchbüchse, mit Bogen gestrichen). Durch den poetischen Klang von Bells Name, seiner Vibraphone, Schrottgegenstände, Saiten, Küchentöpfen. In Harths Laubhütte wurden Jahre und Meilen aufgemischt mit dem Spirit des I Ging, die Interzone-Mashup-Technik von William S. Burroughs evoziert das gemeinsame Bordercrossing: Cross the border, close the gap / 'Choose your battles, wear the mask'. Die Lenden gegürtet mit Asteroiden, sitting alongside worried men and wooden soldiers, verbunden in der geteilten Vorliebe für Knarren und Karren, umschwirrt von B-movie sour-bites & impostor-complex scenarios. In Gwangju mit der Erinnerung an das Massaker 1980, in Tongyeong in memoriam Yung I-sang, überall mit Meister Beobjeongs "mu soyu" im Ohr: Entrümple dein Leben. Finde das Wahre im Vergänglichen, in Gebrochenem & Scherben. Reflect upon human history through the flower's bloom. Lerne neue Wörter: Senfblattkimchi, Asbestdach-Hanok, Frühjahrsmilitärmanöver, Art-illery, Cloud-Impro. Mit Klarinettenreveries, Stabspielklingklang, aber rumorend verschliert, verzerrt, zerkratzt in einem mehrstimmigen Morphen und Quallen, einem vielspurigen Pulsen, Knarzen und Schlurchen. Mit beiläufigem Rezitativ von Shute, der wie ein blinder Seher die Dinge durchschaut und beschreibt, ohne sich von der kakophonen Turbulenz verrückt machen zu lassen. A23H konterkariert die geblasenen Lyrismen - ach, allein sein 'Trying not to...'-Solo - mit jaulenden und keckernden Lauten, die er dem Dojirak entlockt. Auch Bell kann schön carillonieren wie mit tönernen und gläsernen Glöckchen, angeblasen von bassklarinettistischem Zephyr. Ein Gong dongt, Harth raunt über grollendem Abgrund, bezischt und von einem Ufo umsaust. Bell pingt und paukt, umgirrt und bedröhnt mit koreanisiertem oder didgeridoo-dunklem Ton. Thesouthwind brings dust, der Westwind... Das Tenorsax flammt auf, die Zungen vermehren sich, Harth fischer-dieskaut und urmelt auf dem Eis zu windspielerischem Gamelan. Der Duft der Blüten läutet nach.  

[BA 97 rbd]