ALFRED 23 HARTH / WOLFGANG SEIDEL Five Eyes (Moloko Plus 078)

Alfred 23 als Labelpartner von Herbst In Peking, R. Stevie Moore, Column One? Wie das? Ach, da ließ der Widerstandsbewahrer Wolf Pehlke (1955-2013), Harths Brieffreund aus Sweet Paris-Tagen, der auch den Cover-Hummer lieferte, noch aus dem Jenseits seine Beziehungen spielen. Harths Partner hier einen Berliner Grafiker und Musiker zu nennen, wäre arges Understatement. Seidel hat auf der ersten Platte von Ton Steine Scherben getrommelt, fand deren Entwicklung dann aber so unspannend, dass er lieber mit Conrad Schnitzler weiter experimentierte, der seinerseits Tangerine Dream nicht mehr so prickelnd fand. Er sendete Klopfzeichen mit Kluster, sah mit Schnitzler schwarz, schlug (als Populäre Mechanik) die Weißen mit dem gelben Keil und kam dabei zum Spitznamen Sequenza. Harth und Seidel sind beide Jahrgang 1949 und gehören damit zu den 68ern, die von selbstgefälligen Moralaposteln nur zu gern als historische Irrläufer anschmiert werden. Schnitzler ist ein zweites Bindeglied, Beuys auf zumindest indirekte Weise ein drittes. In Schnitzlers Zodiak Free Arts Lab sind die beiden sich anno Steinschlag erstmals begegnet, jeder auf seine Weise interessiert an den Segnungen eines Dilettantismus, bei dem das Spielerische und Jedermenschliche das Herzstück bildet. 1983 kreuzten sich ihre Wege erneut. Exzerpte davon landeten auf Harths multimedialem Tagebuch Sweet Paris (1990). Es folgten für beide vehemente Orts-/ Zeitverschiebungen, Harth gen Seoul, Seidel in einem umgekrempelten Berlin. Aus der einstigen Selbstermächtigung wider die disziplinargesellschaftlichen und unterhaltungsindustriellen Zwänge ist ein, wie Seidel es nennt, bloßes Selbstunternehmertum in einem dog-eats-dog Kapitalismus ... in einer immer perfekteren Kontroll[...] maschine geworden. Geblieben seien, und wie gerne stimme ich dem zu, die Richtschnur 'Keine Macht für niemand' und die Praxis einer 'Herrschaftsfreien Musik' unter Gleichgesinnten. Zumindest hallt in 'Co-Traveller' ein bisschen was vom einstigen Fellow-Travellertum nach. Five Eyes und allen anderen nach Spy-Software benannten Titel nehmen Bezug auf den britisch-amerikanischen Geheimdienstverbund und geben Seidel Gelegenheit, seine Aversionen gegen deutsche Doppelstandards zu artikulieren. Während die Secret Services ihre trojanischen Pferde immerhin auch mit Jazz, Pollock, Rothko, LSD und poppigen Geheimbotschaften bestückten, klapperten in den deutschen Diensten steife Amtsschimmel und die Bocksbeine eines Dr. Mabuse. Ob allerdings 'Fives Eyes' als Tag ausreicht, um im Fadenkreuz einer nach nestbeschmutzenden Gedanken spähenden Software als harmloses Blinzeln zu erscheinen? Wobei Harmlosigkeit wohl auch schon unter Generalverdacht steht. Aber stürzen wir uns doch endlich in die in monatelangem Hin und Her montierten Clashes der beiden, ihre elektroakustischen Verwirbelungen, durch die Harths Saxophon und Posaune und die zungenredende Stimme von Nicole van den Plas geistern. Nicht nur durch 'Heartbleed' pulsiert Herzblut. Zu 'Tempora' darf man sich ein 'O mores' zwar denken, man kann es bei aller trauerflorigen Gedämpftheit des Bläsertons aber auch lassen. Die Stücke sind über jeden Nostalgieverdacht erhaben, in die jetztzeitigen Beats ist allenfalls mal eine psychedelisch freakende Vokalisation eingemischt, die an krautige Zeiten anknüpft, aber genau so gut auch jüngerer Weirdness sich verdanken könnte. Wir strudeln hier im heraklitschen Flow einer Sonic Fiction mit hohem Rauschfaktor, in einer surrealen Zentrifuge, Stichwort 'Turbine', die Beats und Klangpartikel schleudert und dabei auch Bill Shute loopt, der einen Zahlentext repetiert. Es gibt da eine faszinierende Insichspannung aus der pulsierenden, flickernden, schrotenden Rasanz und einer mundgemalten Melancholie. 'Anticrisis Girl' wird mitbestimmt von schamanischer Glossolalie, Harth lässt auf einem Orgelfond einen Chor von Nebelhörnern erschallen und schwenkt dazu eine flackernde Fackel. Aber jetzt bloß keine romantischen Vorstellungen, hier herrschen urbanes Tempo und der Overkill multipler Datenströme, die in alarmierendem Getriller und turbulenten Klangfetzen widerhallen. 'Man-On-The- Side' bringt zuletzt zu einem stoischen NEU-Beat Harthschen Singsang und Tenorsaxtristesse mit zartbitter belegter Zunge, der Anflug von Golden-Oldieness wird jedoch gleich wieder verhackstückt. Das glaub ich gern, dass das unsern Männern in Seoul und in Berlin Spaß gemacht hat.

[rbd BA 84] 

I see that paradise depends upon the work of ... LINDSAY COOPER (1951-2013)


Es kann nicht viele unter uns geben, die nicht berührt wurden von den Celebrations, die Chris Cutler im Andenken an Lindsay Cooper organisiert hat vor 1700 RIO-Aficionados im Londoner Barbican, vollem Haus in Huddersfield und etwa 700 in Forli (21.-23.11.2014). Einige sind ja sogar dabei gewesen, als Dagmar Krause, Tim Hodgkinson, Fred Frith, John Greaves, Chris Cutler, Michel Berckmans, Anne-Marie Roelofs, Zeena Parkins, Phil Minton, Sally Potter, Veryan Weston und Alfred Harth (w/ outstanding Teu- tonic Free Jazz noodling) Coopers Musik im Prisma von Henry Cow, News From Babel, Music for Films und Oh Moscow wiedererklingen ließen. Oh verfluchte Sterblichkeit, aber was für eine Geisterbeschwörung. Mit Berckmans, Harth und Hodgkinson als würdigen Stellvertretern, Parkins an einer Konzertharfe, Minton, der wohl selbst auf seiner eigenen Beerdigung noch aus dem Sarg springen würde, und der immer noch so phänomenalen Stimme von Dagmar Krause. Und mit Cutler als asketischem Energiebündel, das wie in alten Zeiten wirbelt und Lindsay Coopers Musik Flügel verleiht, Musik, bei der es zwischen 11/8 und 13/8 und 4/4 dann 5/4 und wieder 9/8 abzuzählen gilt und die sich anders rundet als nach Kindchenschema. Die Wackelbildchen davon auf Youtube werden durch meinen Tränenfilm noch etwas unschärfer.
Aber da gibt es ja auch noch Rarities (ReR Megacorp, ReR LC2/3, 2 x CD), ein von Chris Cutler und Udi Koomran zusammengestelltes Wiederhören mit auf raren Kassetten, 7" und Compilations verstreuter Musik der Frau, die zwar nicht die Patin, aber einer der Zündfunken für Bad Alchemy gewesen ist und nicht zufällig in ihrer femininen Souveränität Cover-'Girl' der # 2. Sally Potter erinnert im Booklet an die lesbischen und feministischen Webfäden in Coopers musikalischer Tapisserie. Tim Hodgkinson verrät, dass sie für Henry Cow eigentlich überqualifiziert war. David Thomas erinnert sie als tough genug, selbst ein Rattenloch in Madrid mit Fassung zu ertragen. Und Kate West- brook erinnert die glücklichen Tage on tour mit Westbrooks Rossini. Im ersten Teil erklingen ihre Theater-, TV- und Filmmusiken zu The Execution, Green Flutes, Domestic Bliss, With Our Children, Das nächste Jahrhundert wird unseres sein und Wir wollen lieber fliegen als kriechen, eingespielt zwischen 1979 und '87. Es ist das ein Füllhorn Cooperscher Tänzchen, Märschchen, Liedchen und Leitmotive mit den Stimmen von Krause, Maggie Nicols, Kate Westbrook und Celia Gore Booth. Und natürlich mit ihrem unerhörten Fagottsound und ohrwurmigen Sopraninokitzel, untermischt mit Singender Säge, Tenorhorn und eigenartig wehmütigen Tönen, die den Zauber erst vollkommen machen. Dazu kommen 5 Min. aus ihrem Concerto Per Sax Sopranino e Archi vom Angelica-Festival '92 mit hinreißendem Sopranino zu holzig geklopfter und von den Strings gepflückter Percussion. Auf Teil 2 spielen Cooper, Minton und Georgie Born eine 'Song of the Shirt'-Suite; Sally Potter singt mit der seltenen Untermalung von Conny Bauers Posaune, und Robert Wyatt mit 'In the Dark Year' eine Klage für die von Thatcher exterminierten Bergarbeiter 1984; in Höchstform waren David Thomas als Archaeopteryx- Spezialisten und Cooper als The Pedestrians im Hirschwirt in Erding. Unveröffentlicht war bisher 'Piano Roulette', wo Lindsay demonstriert, dass sie auch als Pianistin ganz Erstaunliches auf dem Kasten hatte. Und auch die 33 Min. des Trio Trabant live in Strasbourg 1991 sind eine Ausgrabung, aus dem Fundus von Alfred Harth. Ihre Begegnung im März '87 für die Musiken zu den TV-Filmen von Claudia von Allemann blieb keine Eintagsfliege. Dem Cooper-Harthschen Tête-à-tête auf dessen Plan Eden folgte eine Gegeneinladung zu Oh Moscow und dann eben ihr ebenso lyrisches wie bizarres Trio mit Minton als kreischende Elster. Da zeigt sich noch einmal kaleidoskopisch ihre improvisatorische Abenteuerlust und ja sogar elektrifizierte Virtuosität, die sie zusammen mit ihrer kompositorischen Stimme so unvergesslich machen.

[rbd BA 84]