Alfred 23 Harth

Indem er dem Päckchen aus Fernost eine Kopie der Recout-CD-R atmosfähre fast gut (Recout 0001) bei­fügte, die seine 1991 zusammen mit Peter Fey als SETI IM CLUB unternommene Ex-DDR-Tour dokumentiert, schickt A23H mich zurück in die Widersprüche jener Zeit: Den Katzenjammer am alternativlosen Ende der Geschichte, das Abwickeln von Ballast und von Idealen, den langen Marsch ins Prekariat. Wobei die Abgewickel­ten, die im Stau Marschierenden, sich immer weniger und immer schwieriger konfrontieren ließen mit avan­cierter Sonic Fiction, die in ihrer Suche nach Intelligenz und dem Wunderbaren abhob mit Warpantrieb, mit P. D. Ouspensky, Jürgen Ploog, W. S. Burroughs und Wilhelm Reich an Bord und voller Vertrauen in die Selbstheil­kräfte organischer Konstruktionen. Damals meinte 'Osten' gerade mal Leipzig (und selbst das konnten Harth & Fey nicht rechtzeitig erreichen).

Harth kam zwar ganz schön rum, mit dem Trio Trabant a Roma oder dem QuasarQuartet, Zentrum seiner Aktivitäten in den 1990ern war jedoch Frankfurt/M., wo er 1993 zusam­men mit Christoph Korn das Forum Improvisierender Musiker alias Frankfurts Indetermi­nables Musiqwesen (FIM) initiierte, das man sich in Analogie zu Zürichs Werkstatt für im­provisierte Musik (WIM) vorstellen darf. Als Schallfenster kam das CD-R-Label RECOUT dazu, das einige der kollektiven Leistungen der FIMler dokumentierte. So etwa als Par­cour bleu a deux: Die kainitische Stadt über Abels Gebeinen (Recout 0003) Harths Nord­amerikatrip 1992 mit Heinz Sauer, mit dem er anlässlich der Kunstausstellung "2324 Fu" im Dominikanerkloster FFM zusammengefunden hatte. Im STERN4TET spielte Harth mit Daniel Franke, Micha Daniels und dem Drummer Bertram Ritter (Recout 0002 & Rent Art Quest, Recout 0013). Als IMPERIAL HOT tat er sich mit Korn und Ritter zusammen, einge­fangen als Hot Deals (Recout 0005). Mit Harry Petersen, Martin Lejeune & Bülent Ates formierte er HALE PEAT resp. PALE HEAT, während die Geschichte mit Korn weiterging in IMPERIAL HOOT, einem durch Sounds von Marcel Daemgen & Günter Bozem an den Drums vervollständigten 4tet, dokumentiert auf Trialectrique (Recout 0008), Tribology (Recout 0009, 1998) und secrets of developement (Blue Noises, 1999). Harths Fin de Siècle wur­de schon in BA 60 gestreift, die Recout Com. Ah My Stick frischt aber noch einmal Erin­nerungen an das Geleistete auf. Mit Hörbeispielen der genannten Projekte plus Exzerpten von Harths Pollock (Orkestrion Schallfolien, 1997), von seinem Solo Contury Cheiron, von modern post (Recout 0006, 1997) mit dem Duo mit Wolfgang Stryi (1957 - 2005), der 23 Jahre lang (Kontra)-Bassklarinette im Ensemble Modern blies, und mit der 'Cassini-Suite' aus Alfred Harth's Die Flyby No Net plays CASSINI (Recout 0010, 1998). Was da ästhe­tisch der Post-Fusion nahe stand, durch Korns Gitarre auf gesalzene Weise, peilte - wie die Stichwörter Stern, extraterrestrische Intelligenz und Cassini-[Huygens] (ein 1997 gestarteter Kiebitz zu Saturn und Titan) andeuten - zugleich elektronische Cyberspaces an, allerdings ohne erkennbare Schnittmenge mit den zeitgleichen, nämlich ebenfalls ab 1993 in Frankfurt praktizierten elektronischen Deterritorialisierungen von Mille Plateaux. Harths 'Vitriol' (auf Contury Cheiron) - alchemistisch entschlüsselbar als "Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem” - ist eine Zwischenstufe hin zu seinen künftigen Laubhuetten-Mixturen, noch mit einem hohen Anteil an Free Jazz. Cheiron als Pate zu wählen, den Kentauren, der seine Unsterblichkeit an Prometheus weitergab, ver­rät das bewusste Faible für Mischformen und nahm bei Imperial Hot/Hoot die chimären­hafte Gestalt von 'Jazzcore' an. Korn & Daemgen setzten ihre gute Arbeit fort als ARBEIT, eine Dekade später tauchte Korn dann ziemlich unvermutet bei edition Wandelweiser auf, mit dem stillen Lobgesang Simeon (2013).


Anno 2000 wechselte Harth nach New York, hielt es dort aber nicht lang aus.
Ab 2001 spielte sich das Leben von Secret Agent 23 ganz im Fernen Osten ab - Seoul wurde zum neuen Lebensmittelpunkt und Ausgangspunkt ganz neuer Kontakte. Ein intensiver Input entwickelte sich zu 'Bulgasari', einer nach einem nordkoreanischen Monstertrashfilm getauften Initiative des Gitarristen Yukie Sato, der erst heuer wieder mit Harth zugange war, als sie auf der Japan-Tour von You Me & Us an der Seite von Chris Cutler & Yumi Hara für den erkrankten Daevid Allen einsprangen. Die 'Bulgasari'-Connection ist dokumentiert auf der Bulgasari Special Compilation, aufBulgasari 2-4 featuring Ensemble Naeil und auf Bulgasari 2003 0-7. Darauf zu hören sind ebenfalls das Ensemble Naeil mit Harth, Choi Sun Bae, Kim Gyu Hyoung an der Puk-Trommel und Kim Eun-Young an der zweisaitigen Haegeum mit west-östlicher NowJazz-Bizarrerie. Bae spielt zudem solo bei 'No War' einen Chor kaskadierender Trompeten. Dazu kommen das Seoul Frequency Quartet, das zur Hälfte aus dem Astronoise-Duo von Choi Joonyong & Hong Chulki bestand, mit einer Version von Steve Reichs Phasen­kanon 'Come Out', Rush Film, ein hochgradig elektroakustisches Quartett mit Harth und Sato Yukie, und 3C3, ein Bläser-Trio mit Harth, Bae und Joe Foster, einem Kalifornier, der ebenfalls in Seoul ein neues Zuhause gefunden hat, als rumorendem Spaßmacher, der auch im Duo mit Harth die Seouler Girls zum Kichern bringt. Auf 'Bulgasari' folgte 2005 das von Ryu Hankil organisierte 'Relay' als multimediale Spielplattform mit Manual als angegliedertem Label. Daraus ging 2008 dann Jin Sangtaes 'Dotolim' hervor, wiederum mit einer Reihe von mittlerweile 60 Konzerten in intimem Rahmen und seit 2012 sogar mit einem dotolimpic-Festival mit internationalen Attraktionen. Wie anschlussfähig die Seouler Szene längst ist, hatte sich schon 2006 gezeigt beim Elektroturnier von Hong Chulki, Choi Joonyong, Ryu Hankil, Jin Sangtae und Sato Yukie mit den Schweizer Signal To Noise-Machern Korber, Möslang, Müller & Kahn (signal to noise vol. 6, FOR4EARS). Mein Fazit dazu schon in BA 59: Der Homo ludens streut sich als Sand ins Getriebe des puren Konsumismus. Die Zeiten, auf den Fernen Osten noch irgendeinen Exotismus zu projezieren, sind - Dudelsack hin, Haegeum her - vorbei. Die elektroakustische Internationale zeigt das eigentliche Potential der Globalisierung und des elektronischen Furors auf. Aber bei jedem Ton, den sie piepst, wispert das Echo: "Alibaba ... aba ... aba ...".

Die China Collection (Kendra Steiner Editions, KSE #275, CD-R) bringt uns ent­sprechend in die Gegenwart der Jahre 2011 - 14. A23H tändelt da mit der Buddha-Maschine, wobei der motorisch und bruitistisch furiose Mensch-Maschinen-Loop 'Invocation Orhk', sein ursprünglicher Beitrag zur Lona-Records-MP3-Kompila­tion Tribute to FM3: Buddha Machine4 Vol.2, hier in einer turntablistisch an­ge­reicherten Version erklingt. Umrahmt von den kurzen Samplingkompositionen und Brainstormings 'Simulator 3' (für Streichquartett), 'Stop Finning' und 'Fin Noir' hört man A23H 'Live in Shanghai' beim krachigen Knattern und Jaulen mit dem Shanghai Quintet. Kaum zu glauben, dass da Bassklarinette, Taschen­trompete, Altosax, Klarinette, Gitarre und Schlagzeug im Einsatz sind. 'Shark Without Fin' entstand zusammen mit Alok Leung, Sherman Ho & Sin:Ned aus Hongkong und ist nicht weniger xenoglott und cybertechnoid. Harth mischt sich da alles andere als alteuropäisch ein, das Finale gestaltet sich dennoch ent­schleunigt und schwebend. Sein 'Peking Opera Remix III' mischt aus dem Goeb­bels-Harth-Original und der Ground-Zero-Version ein plunder­pho­nisches Update und quintessentielles Alles-in-allem aus fernöstlich turbulentem Slapstick und Harthscher Vielschichtigkeit. Mehr Kladderadatsch, mehr Augenhöhe mit der Aktualität, mehr Vorgriff auf Künftiges geht kaum. Tomorrow is no question. Die Gegenwart dauert drei Sekunden.

[BA 83 rbd]