Cassiber: The Way It Was (ReR CCD5)


A screaming comes across the sky. It has happened before, but there is nothing to compare it to now.

CASSIBER

'A SCREAMING'!!!, ein HEULEN, Christoph Anders' Geheul und die Schreie, der Alarm von Alfred Harths Saxophon und Trompete, schießen mir durch den Kopf, wenn der Name CASSIBER fällt. "I came to the city / I had to eat / Arriba !"... "O cure me / Ach heile mich, du Arzt der Seelen / Ich bin sehr krank und schwach / Man könnte die Gebeine zählen"... Dazu haben wir mitgefiebert, mitgemosht, mitgeseufzt, angestachelt von einer der (neben Skeleton Crew und Debile Menthol...) packendsten Livebands Mitte der 80er. Wenn Anders "In einer Minute" schrie und aufs Blech hämmerte, wenn die Rache tanzte "in a whirl of green; a flirt with Murder - Justice is her tambourine"... Wenn der Emigrantenblues "Und ich werde nicht mehr sehen / Das Land aus dem ich gekommen bin" erklang, und Prome- theus stöhnte "I ache & ache & ache...". Wenn die Sehnsucht ihren eigenen Schatten jagte: "I tried to reach you / Through the mirror / Through the window / Through the past"... Und wenn zuletzt der große Herzensbrecher angestimmt wurde: "At last I am free / I can hardly see in front of me... But who am I fooling / When I know it's not real? I can't hide / All this hurt and pain inside I feel." Letzteres hat dann Heiner Goebbels gesungen, mit Robert Wyatt-Feeling.

Was mich da chronoportiert, ist The Way It Was (ReR CCD5), Vorhut einer großen CASSI- BER-Box mit den 4 Studioalben, DVD und Gesamtdokumentation. Bisher unveröffentlichte Studiosketche & Livemitschnitte (vor allem vom MIMI-Festival 1987) vermitteln, von Bob Drake abgemischt, den ungefähren Verlauf eines typischen Cassiber-Konzerts der Spät- phase - wie bisher nur Live In Tokyo (mit Shinoda Masami, 23.10.1992). Leider war da Alfred 23 Harth nicht mehr dabei, dessen Bläserfächer und Sophistication bei Man Or Monkey, dem Debut von 1982, und Beauty & The Beast, dem Höhepunkt 1984, den spe- ziellen Goebbels-Harth-Touch und den Bach-Eisler/Brecht-Thrill mitbestimmt hatten. Die brisante Mixtur aus Engagement, Improvisation, Songs, Postpunk-Verve und Intelligenz, wurde getragen von der zugleich mitreißenden und widerborstigen, von Montage und Morphing bestimmten Goebbels/Harthschen Musikalität und durchwirbelt von Chris Cut- lers File Under Popular-Drumming, während seine Lyrics denkbar unplump, aber nach- drücklich dazu aufforderten, über die herrschenden Verhältnisse den Stab zu brechen. Zuerst brach aber Cassiber beinahe selber auseinander. Ohne Harth (denkt an Van der Graaf Generator ohne David Jackson) entstanden Perfect Worlds (1986) und A Face We all Know (1990), für das, neben denen von Cutler, auch Zeilen von Thomas Pynchon und Rainald Goetz herangezogen wurden.

Aus Pynchons 'Gravity's Rainbow' stammen die Fetzen, die Anders bei 'Archways', 'A Screaming' (comes across the sky) & 'They have begun to move' schreisingt oder spricht. 'It's Never Quiet' ist ein einziges Kaleidoskop von Splittern, 'Six Rays' (light my way) ein von Gitarre durchschrillter Fetzer. Und dann kommt schon, gepaart aus Elegie, Pathos und Beklemmung, der 'Prisoner Chorus' mit seinem "Wie ein Stück Vieh / Heiliger Gott!" und - aus Schönbergs 'Moses und Aron' - "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt". Bei 'Disk Not Re- sponding' wird um ein technisches Malheur herum improvisiert, 'Oh No' macht aus Sex- & Soul-Gestöhne Popcorn, bevor mit 'Gut' (Wenn schon, hätte ich es geahnt, hätte ich die Größe der Gefahr geahnt) AH höchstselbst den Text für Cassibers vielleicht schlagend- sten Ohrwurm liefert. 'Crusoe's Landing' zerrockt Robinsons Inventarliste zu Klassik- samples, Meeresbrandung und Rabenkrächzen für seinen Schiffbruch mit 1 Überleben- den. 'Miracolo' bestaunt die Kluft zwischen Reichen & Armen als absurdes Wunder, um mit 'Our Colourful Culture', lachend und Machete schwingend, die Städte und die Paläste der Reichen zu stürmen. Bei 'In A Room' fällt der Blick aus einer Klause durchs offene Fenster und sieht "HORROR / HEAVEN looking in" - Cutlers 'Weltanschauung' in der Nussschale. Zuletzt schüttelklirrt und hämmert 'Not Me' noch einmal alles Pharisäertum so durch, dass die Scheidelinie klar wird - diesseits der Schmerzgrenze gibt es keine sauberen Hände.

CASSIBER stellte in den Verwerfungen der 80er Jahre die ultimative Frage: Man, or Monkey? Horror / Heaven? Technisch avanciert und durchströmt von einer kritischen Erregung, die sich auffächerte in Parallelaktionen: Harth, Goebbels & Cutler mit Duck and Cover (w/ Krause, Frith, Cora, Lewis) und Cassix (w/ Fabri, Fiori, Martini), Harth mit Gestalt Et Jive, Vladimir Estragon und Lindsay Cooper, Anders mit State Of War, Cutler mit News From Babel, David Thomas und Les 4 Guitaristes De L'Apocalypso-Bar, Goeb- bels mit Heiner Müller, dessen mythopoetische Lakonie und Kryptik auffallend mit der von Cutler übereinstimmten. Beide waren entzündet vom offenbar desaströsen Telos der prometheischen Flamme. Die Flüsse zu vergiftet, um damit Augiasställe zu reinigen, die Blumen der Utopie verwelkt, der national braune wie der stalinistisch blutige So- zialismus untot und zombifiziert, die kolonialen Früchte sauer und bitter geworden. Die Touristenströme teilten mit den gegenläufigen Migrantenströmen nichts, außer Illusio- nen von einem besseren Leben. Der Fall der Mauer brachte nicht die Lösung, und auch nicht das Ende des Dritten Rom in Gewimmer, es schürte nur die Illusionen. Und schon war auch wieder ein Heulen über Bagdad zu hören. Als 'Philosophy' blieben (auf A
Face We All Know) nur sprachlose Kürzel. Cutler drehte das Projekt Zivilisation noch einmal auf Anfang - ein schiffbrüchiger Adam und etwas Strandgut ('Crusoe's Lan- ding'). Und sah doch auf Domestic Stories (1992, mit Lutz Glandien als anderem Goeb- bels und wieder A23H, Krause & Frith) im Grau in Grau der Posthistoire Minervas Eule fliegen. Nach innen gerichtete gerichtsmedizinische Spurensuche und Ursachenfor- schung war nun angesagter als Hebammenkunst.
Cassibers fiebernd hämmernde Dringlichkeit, die gleich ihre allerersten Takte so mit- reißend gemacht hatte, blieb derweil ungebrochen, als ein Insichwiderspruch aus Er- wartung und Enttäuschung, der sich als euphorisierter Apocalypso Luft machte. Als ob es für die Wenn-nicht-Dann-Entscheidung zwar höchste Zeit wäre ('Time Running Out' beschleunigte 1984 auf 45 rpm), aber eben nie zu spät. Es gab da immer auch noch ein Gelächter, und eine musikalische Vitalität, die nach dem Mond mit den Zähnen schnappte und dabei jeder Endgültigkeit und jeder Eindeutigkeit spottete. Denn Vorsicht - das Titelstück des Debuts ist ein aufgekratztes Goin' Ape. 'Primitive' Percussion und Gitar- rennoise kollidierten mit avancierter Samplingtechnik, improvisatorisch verspielte Of- fenheit und multiinstrumentales Anything-goes wechselten mit schlagkräftigen Texten und einem unbändigen Über-Stock & Stein-Drive, der Bullshit, Brainwashing und be- triebsblinder Affirmation Paroli bot. Gut genug, dass mir heute noch das Herz höher schlägt. Arriba! HaHaHaHa! Arriba!!

In Bad Alchemy 76 by Rigobert Dittmann