Dream On

Ich will nicht schließen, ohne an LINDSAY COOPER (1951-2013) zu erinnern. Sie war und sie bleibt die Anima der bad alchemystischen Alchemie. Ohne den Lockruf von Rags und The Golddiggers hätte ich den Eingang zum No Man's Land womöglich nie gefunden. Sie hat mir eines der ersten Interviews meines Lebens gegeben. Sie war die Ikone für den femininen und, mehr noch, den feministischen Aspekt des Rock in Opposition. Sie hat mir mit ihrer Music for Other Occasions und mit Oh Moscow, mit Sally Potter und als Pedestrian mit David Thomas denkwürdige Konzerterlebnisse geschenkt. Wenn ich Henry Cow höre, denke ich an Lindsay. Western Culture - Lindsay Cooper hat sie verkörpert. 'A Young Lady's Vision' - sie hatte sie. 'Celeste's Dream' (auf The Gold Diggers) hat sie komponiert. Catherine Jauniaux' 'Dream' (auf Fluvial), das war ihr Ton. Sie stand mit Patin, als Bad Alchemy getauft wurde. Wenn ich an News From Babel denke, denke ich an Lindsay. Wenn ich an Mike Westbrook denke, denke ich an Lindsay. Wenn ich an Maarten Altena denke, denke ich an Lindsay. Wenn ich an das Trio Trabant A Roma denke, denke ich an Lindsay. Wenn ich von Sophistication rede, meine ich Lindsay. Wenn ich mir engagierte Musik wünsche, denke ich an Lindsays Statements gegen Ausbeutung (Rags), die kalte Spaltung Europas (Oh Moscow), den Golfkrieg (Sahara Dust). Wenn ich ein Fagott höre, denke ich an Lindsay. Lange dachte ich sogar, dass, wenn etwas so Sperriges und Komisches so cool klingen kann, alles möglich wäre. Sogar eine bessere Welt. Wenn ich heute Silke Eberhard sehe oder höre, Ingrid Laubrock, Susanna Gartmayer oder auch Ava Mendoza, erinnern sie mich an Lindsay Cooper. So ist sie mir unvergesslich gegenwärtig. 

Rigobert Dittmann in BA79

ALFRED 23 HARTH As Yves Drew A Line. Estate (Re-Records, RE-CD-008R)


Über die Linie? Welche Linie? Harths neueste Kreation erreicht mich aus Hongkong als ein ästhetischer Irrwisch, dessen Sound'n'Shape-Shifting ich jetzt einfach mal unter NOW festhalte. In der perspektivischen Verlängerung seiner Mother-Of-Pearl-Series gibt diese Assemblage aus Cut-Ups, Schichtungen und beständigem Morphing, die sich im Titel zu Pop Art und Konzeptkunst bekennt, einen Eindruck davon, was im Kopf mit der Nummer 23, der von sechs Dekaden Brainstorming überquillt, haust und west. Hauptingredienz dieses Daydreamscapes, dieses Streams of Consciousness, der einen durch das Innere von Tonclustern driften lässt wie durch ein Harthsches Spiegelkabinett, einen Palast der Winde, wobei das innere Auge durch Capitaine Nemos Bullauge schweift oder auf ein Gärtchen hinter dem Haus, sind, neben Piano, geblasene Klänge, von Bassklarinette, Tenorsax, Trompete, aber auch exotischeren Trötern. 'Universal City. Steps' ist als Einstieg in dieses autobio- und psychogeografische Dérive eine Rutschbahn, ein Loch ähnlich dem, in das Alice dem weißen Kaninchen hinterherstürzte. Nur dass man hier durch ein enges Metallrohr purzelt, wie von einem brobdingnagschen John Butcher geblasen. Die Klänge sind außer durch extreme Spieltechniken gepresst und angeschrägt ständig auch durch elektronische Modulation und Vervielfältigung in brodelnder und zuckender Veränderung begriffen. Als ein rauschender, zischender, brennender Schilfwald aus Zungen, ein Buch mit raschelnden Seiten, ein Maschinenraum, ein Strahlen brechender und jede Linearität verzweigender Ikosaeder, ein verschachtelter perecscher Lebensraum der Phantasie. Alles gibt es nur gleichzeitig in einem Kopf in einem Ledersessel in einer Laubhütte in Seoul mit Blick auf den Monsunregen. Jede Erinnerung ein Fenstersturz, ein rückwärts gespultes Tonband. Spurenelemente von 7k Oaks und des Trompeters Choi Sun Bae huschen vorüber in Harths Pluriversum, das aber durchaus in einem ständigen Vorwärts begriffen ist, Schritt für Schritt, über die Linie, unbeirrbar. Mit, nach zwischendurch immer wieder schon auch melodischen Fetzen, dem hymnischen Chorus 'Golden Mean. Unswerving' als goldenem Horizont. 

[BA 78 rbd]

The Expats (KSE # 233)


Als The Expats (KSE # 233) ist ein Konzert eingefangen, das SAM BENNETT, ALFRED 23 HARTH, CARL STONE & KAZUHISA UCHIHASHI 2010 im Superdeluxe in Tokyo zu­sammenführte. Mit Gadgets, Diddley & Mouth Bow, Reeds, Kaoss Pad & Dojirak, Computer & Max/MSP bzw. E-Gitarre & Daxophon sowie Samples & Stimmen improvisieren die Vier fern der Heimat einen dicht gewobenen Zaubertep­pich elektroakustischer Sonic Fiction, der die Imagination über exotistische Horizonte hinaus in weiße Felder der Hirnforschung befördert. Ob dabei mystifizierende Ver­schleierung oder aufklärendes Transparentmachen die größere oder reizvollere Rolle spielen, wage ich nicht zu entscheiden. Babygebabbel legt eine kindlich spielerische Annäherung an diesen Klangdschungel nahe, der bei aller sinnverwirrenden Undurchdringlichkeit durchaus auch mit harmonischen Ingredienzen inmitten von videospiele­rischer und freiweg xenophoner Phantastik aufwartet. Die Fülle der dabei doch meist leichten und flüchtigen, wenn auch nicht immer leicht zu identifizierenden Klänge über­wältigt, wobei im dritten Anlauf auch saxophonistisches Feuer ins Spiel kommt. Free Jazz ist jedoch allenfalls ein Urahn dieser Seltsamkeiten, die mit surrealen Verformun­gen, pataphysischer Percussion und vokaler Absurdität letztlich nur von einem Wort halbwegs getroffen werden: 'alien'. File under X. Wobei dieses X auffallend komische Züge trägt, wenn man zu 'komisch' auch kurios, eigen­artig, merkwürdig und fantastisch mitdenkt. Der mit 'alien' überschriebene vierte Teil setzt mit Madrigalgesang ein, der perkussive und dröhnende Verwerfungen nach sich zieht, aber auch zartes Saitengeplinke und sanfte Tenor­saxträumerei, der aber schon wieder stachlige Gitarren­loops in die Seite fahren. Aber vielleicht ist das Alles nur die mit Expat-Ohren gehörte Quersumme asiatischer Normalität.

In Bad Alchemy 77 by Rigobert Dittmann

DEAD COUNTRY feat. ALFRED 23 HARTH Gestalt Et Death (Al Maslakh Recordings 15)


Im November 2011 war A23H in Istanbul verabredet. Der Gitarrist Umut Caglar, Synthienoise & Tape Delay und Anarchist Sevket Akinci an der zweiten E-Gitarre, Facebook-Bekannt­schaften, hatten ihn eingeladen, mit ihm und ihrer Band zu spielen,  Murat Copur am E-Bass und Kerem Öktem an Drums & Percussion. Von Dead Countrys 'Improvised Trash' führt eine ideelle Spur zu Eugene Chadbournes 'Hellington Country' und 'Kul­tural Terrorism' und eine manifeste in Gestalt einer Kollaboration auf Konnex Records (2010). Keine Ahnung, ob bei der Begegnung mit A23H von vornherein klar war, dass dabei Jazzcore à la Mevlevi meets Burroughs entstehen würde. William S., nicht Edgar Rice. Im Anflug hatte Harth ein Gedicht im An­denken an Friedrich Kittler geschrieben, der Dracu­las Vermächtnis weitergereicht, und, als Derwisch zwischen Medien und Musen, den "Taumel des Zu­sammenfalls" gefeiert hatte. In Maslak geriet er in einen Marvel-Comics-Taumel, begegnete X-23, Mer­cury (verkappt in 'Cessily in Liquid Form ...') und Lady Deathstrike'. Nicht a priori seine Welt, aber eine, in die er sich auf Anhieb mitreißen lässt, wobei er die Logik der Eskalation dieser Sonic Fiction deutlich selbst bestimmte. Der Dhikr hebt an mit rituellem Tamtam und Harthschem Gezüngel in den höchs­ten Tönen, dem er quäkende Mundstücklaute fol­gen lässt. Bei 'Fiery Red DC' setzen zu ekstatisch keckerndem Gebläse die Gitarren mit ein, schüren die Glut und überbrücken Harths Atempause, nach der er elektronisch flackernd wiederkehrt. Das synthiebetrillerte '96205 Ararat' wirkt wie die geis­terhafte Ruhe vor dem Sturm, dem der 'Lady Death­strike's Healing Force'-Dub entgegen driftet, durch­hallt von kaskadierenden Harthschen Rufen und seinem flatterzüngelnden Spitfire und von errati­schen Gitarrenschlägen und zuletzt hohem Jaul­faktor. Die verzerrt computerisierte, perkussiv um­kleckerte Stimme, elektronische und gitarristische Schlieren und Harths orientbluesige, zunehmend 'inspirierte' Klarinette schüren die Spannung, die mit jedem Schritt wächst, mit dem man, alarmum­jault, vor das Auge des Hurrikans tritt. Nach dem Mond greifen, vom Land erzählen können, wo Milch und Honig fließen. Geht es darum? Bei 'Mr. Bur­rough's Finger' geht es darum, den Feuerfinger ins Mondauge zu bohren, bei 'Jump Off the Time­stream' um den per Noise forcierten Sprung von den Zeitklippen. Als ein psychedelisches Delirium, in dem man ins Vergessen des Vergessens tau­melt, wieder mit Harthschen Rufen und zuletzt einem lang gezogenen Schrei. 

In Bad Alchemy 76 by Rigobert Dittmann


Cassiber: The Way It Was (ReR CCD5)


A screaming comes across the sky. It has happened before, but there is nothing to compare it to now.

CASSIBER

'A SCREAMING'!!!, ein HEULEN, Christoph Anders' Geheul und die Schreie, der Alarm von Alfred Harths Saxophon und Trompete, schießen mir durch den Kopf, wenn der Name CASSIBER fällt. "I came to the city / I had to eat / Arriba !"... "O cure me / Ach heile mich, du Arzt der Seelen / Ich bin sehr krank und schwach / Man könnte die Gebeine zählen"... Dazu haben wir mitgefiebert, mitgemosht, mitgeseufzt, angestachelt von einer der (neben Skeleton Crew und Debile Menthol...) packendsten Livebands Mitte der 80er. Wenn Anders "In einer Minute" schrie und aufs Blech hämmerte, wenn die Rache tanzte "in a whirl of green; a flirt with Murder - Justice is her tambourine"... Wenn der Emigrantenblues "Und ich werde nicht mehr sehen / Das Land aus dem ich gekommen bin" erklang, und Prome- theus stöhnte "I ache & ache & ache...". Wenn die Sehnsucht ihren eigenen Schatten jagte: "I tried to reach you / Through the mirror / Through the window / Through the past"... Und wenn zuletzt der große Herzensbrecher angestimmt wurde: "At last I am free / I can hardly see in front of me... But who am I fooling / When I know it's not real? I can't hide / All this hurt and pain inside I feel." Letzteres hat dann Heiner Goebbels gesungen, mit Robert Wyatt-Feeling.

Was mich da chronoportiert, ist The Way It Was (ReR CCD5), Vorhut einer großen CASSI- BER-Box mit den 4 Studioalben, DVD und Gesamtdokumentation. Bisher unveröffentlichte Studiosketche & Livemitschnitte (vor allem vom MIMI-Festival 1987) vermitteln, von Bob Drake abgemischt, den ungefähren Verlauf eines typischen Cassiber-Konzerts der Spät- phase - wie bisher nur Live In Tokyo (mit Shinoda Masami, 23.10.1992). Leider war da Alfred 23 Harth nicht mehr dabei, dessen Bläserfächer und Sophistication bei Man Or Monkey, dem Debut von 1982, und Beauty & The Beast, dem Höhepunkt 1984, den spe- ziellen Goebbels-Harth-Touch und den Bach-Eisler/Brecht-Thrill mitbestimmt hatten. Die brisante Mixtur aus Engagement, Improvisation, Songs, Postpunk-Verve und Intelligenz, wurde getragen von der zugleich mitreißenden und widerborstigen, von Montage und Morphing bestimmten Goebbels/Harthschen Musikalität und durchwirbelt von Chris Cut- lers File Under Popular-Drumming, während seine Lyrics denkbar unplump, aber nach- drücklich dazu aufforderten, über die herrschenden Verhältnisse den Stab zu brechen. Zuerst brach aber Cassiber beinahe selber auseinander. Ohne Harth (denkt an Van der Graaf Generator ohne David Jackson) entstanden Perfect Worlds (1986) und A Face We all Know (1990), für das, neben denen von Cutler, auch Zeilen von Thomas Pynchon und Rainald Goetz herangezogen wurden.

Aus Pynchons 'Gravity's Rainbow' stammen die Fetzen, die Anders bei 'Archways', 'A Screaming' (comes across the sky) & 'They have begun to move' schreisingt oder spricht. 'It's Never Quiet' ist ein einziges Kaleidoskop von Splittern, 'Six Rays' (light my way) ein von Gitarre durchschrillter Fetzer. Und dann kommt schon, gepaart aus Elegie, Pathos und Beklemmung, der 'Prisoner Chorus' mit seinem "Wie ein Stück Vieh / Heiliger Gott!" und - aus Schönbergs 'Moses und Aron' - "Oh Wort, du Wort, das mir fehlt". Bei 'Disk Not Re- sponding' wird um ein technisches Malheur herum improvisiert, 'Oh No' macht aus Sex- & Soul-Gestöhne Popcorn, bevor mit 'Gut' (Wenn schon, hätte ich es geahnt, hätte ich die Größe der Gefahr geahnt) AH höchstselbst den Text für Cassibers vielleicht schlagend- sten Ohrwurm liefert. 'Crusoe's Landing' zerrockt Robinsons Inventarliste zu Klassik- samples, Meeresbrandung und Rabenkrächzen für seinen Schiffbruch mit 1 Überleben- den. 'Miracolo' bestaunt die Kluft zwischen Reichen & Armen als absurdes Wunder, um mit 'Our Colourful Culture', lachend und Machete schwingend, die Städte und die Paläste der Reichen zu stürmen. Bei 'In A Room' fällt der Blick aus einer Klause durchs offene Fenster und sieht "HORROR / HEAVEN looking in" - Cutlers 'Weltanschauung' in der Nussschale. Zuletzt schüttelklirrt und hämmert 'Not Me' noch einmal alles Pharisäertum so durch, dass die Scheidelinie klar wird - diesseits der Schmerzgrenze gibt es keine sauberen Hände.

CASSIBER stellte in den Verwerfungen der 80er Jahre die ultimative Frage: Man, or Monkey? Horror / Heaven? Technisch avanciert und durchströmt von einer kritischen Erregung, die sich auffächerte in Parallelaktionen: Harth, Goebbels & Cutler mit Duck and Cover (w/ Krause, Frith, Cora, Lewis) und Cassix (w/ Fabri, Fiori, Martini), Harth mit Gestalt Et Jive, Vladimir Estragon und Lindsay Cooper, Anders mit State Of War, Cutler mit News From Babel, David Thomas und Les 4 Guitaristes De L'Apocalypso-Bar, Goeb- bels mit Heiner Müller, dessen mythopoetische Lakonie und Kryptik auffallend mit der von Cutler übereinstimmten. Beide waren entzündet vom offenbar desaströsen Telos der prometheischen Flamme. Die Flüsse zu vergiftet, um damit Augiasställe zu reinigen, die Blumen der Utopie verwelkt, der national braune wie der stalinistisch blutige So- zialismus untot und zombifiziert, die kolonialen Früchte sauer und bitter geworden. Die Touristenströme teilten mit den gegenläufigen Migrantenströmen nichts, außer Illusio- nen von einem besseren Leben. Der Fall der Mauer brachte nicht die Lösung, und auch nicht das Ende des Dritten Rom in Gewimmer, es schürte nur die Illusionen. Und schon war auch wieder ein Heulen über Bagdad zu hören. Als 'Philosophy' blieben (auf A
Face We All Know) nur sprachlose Kürzel. Cutler drehte das Projekt Zivilisation noch einmal auf Anfang - ein schiffbrüchiger Adam und etwas Strandgut ('Crusoe's Lan- ding'). Und sah doch auf Domestic Stories (1992, mit Lutz Glandien als anderem Goeb- bels und wieder A23H, Krause & Frith) im Grau in Grau der Posthistoire Minervas Eule fliegen. Nach innen gerichtete gerichtsmedizinische Spurensuche und Ursachenfor- schung war nun angesagter als Hebammenkunst.
Cassibers fiebernd hämmernde Dringlichkeit, die gleich ihre allerersten Takte so mit- reißend gemacht hatte, blieb derweil ungebrochen, als ein Insichwiderspruch aus Er- wartung und Enttäuschung, der sich als euphorisierter Apocalypso Luft machte. Als ob es für die Wenn-nicht-Dann-Entscheidung zwar höchste Zeit wäre ('Time Running Out' beschleunigte 1984 auf 45 rpm), aber eben nie zu spät. Es gab da immer auch noch ein Gelächter, und eine musikalische Vitalität, die nach dem Mond mit den Zähnen schnappte und dabei jeder Endgültigkeit und jeder Eindeutigkeit spottete. Denn Vorsicht - das Titelstück des Debuts ist ein aufgekratztes Goin' Ape. 'Primitive' Percussion und Gitar- rennoise kollidierten mit avancierter Samplingtechnik, improvisatorisch verspielte Of- fenheit und multiinstrumentales Anything-goes wechselten mit schlagkräftigen Texten und einem unbändigen Über-Stock & Stein-Drive, der Bullshit, Brainwashing und be- triebsblinder Affirmation Paroli bot. Gut genug, dass mir heute noch das Herz höher schlägt. Arriba! HaHaHaHa! Arriba!!

In Bad Alchemy 76 by Rigobert Dittmann